Nach Hause schwimmen
Er hatte die Schallplatten, verglich sein Spiel mit dem Gehörten und verließ sich auf Matthews Urteil. Den Ansprüchen einer Jury zu genügen erschien ihm dennoch äußerst unwahrscheinlich. Trotzdem füllte er die Fragebögen aus, überzeugt, nicht angenommen zu werden, und im Glauben, Matthew Fitzgerald etwas schuldig zu sein.
Matthew steckte die Formulare in einen Umschlag und legte sie auf die Kommode neben der Haustür. Wenn Pauline die nächste Dose mit Keksen brachte, würde er sie bitten, die Papiere als gesetzliche Vertretung zu unterschreiben. Er wusste, wie hochgesteckt ihre Ziele mit Wilbur waren, und zweifelte keine Sekunde an ihrem Einverständnis.
Als Wilbur später aus dem Gedächtnis Passagen des Dvořák-Konzerts spielte, traten Matthew Tränen in die Augen. Wilbur setzte den Bogen ab und fragte besorgt, ob etwas nicht stimme. Matthew sagte, er solle weiterspielen, es sei nur die Rührung über die Musik, die ihn erfasst habe. Dass er jetzt schon um Wilbur weinte, wollte er dem Jungen nicht sagen. Er saß in seinem Sessel versunken da und hörte zu, die Augen geschlossen. Im Garten verlor sich das Licht des Tages, ein leichter Wind begleitete Wilburs Spiel mit Blätterrauschen und dem leisen Knarren der Schuppentür. Matthews Kopf leerte sich, um überschwemmt zu werden mit Klängen. Er griff danach, versuchte sie festzuhalten. Dass seine Hände sich im Fell der Katze verkrallten, merkte er erst, als das Tier fauchend von seinem Schoß sprang und aus dem Zimmer rannte.
Obwohl Wilbur ihre Existenz leugnete, gab es außerhalb des Hauses, in dem er mit Matthew und dem Cello die Zeit vergaß, noch immer eine Welt. Es gab Pauline und Henry Conway und sein offizielles Zuhause, es gab die Sonntage des Vorlesens und die neue Schule in Letterkenny. Und noch immer gab es die Mitschüler, die bis auf wenige mit ihm versetzt worden waren und die Wilbur seit dem Weihnachtskonzert noch mehr als Außenseiter behandelten. Sein Erfolg in der Kirche verstärkte den Neid der übrigen Kinder, und obwohl er eine gewisse Immunität entwickelt hatte, war für ihn jeder Schultag eine Qual.
Nur Erin Muldoon behandelte ihn nicht wie einen Aussätzigen. In den Pausen setzte sie sich sogar ab und zu neben ihn und stellte ihmFragen. Sie wollte wissen, was genau er beim alten Fitzgerald mache, wie er sich als Waisenkind fühle, ob er noch wachsen würde und wie es gewesen sei, als Conor auf seinen Vater schoss. Weil Wilbur keine oder nur äußerst knappe Antworten gab, redete Erin die meiste Zeit selber. Sie erzählte von ihrer großen Schwester, von einem Auto, das sie sich einmal kaufen würde, von Filmen, die sie gesehen, und den Jungs, die sie geküsst hatte.
Wilbur interessierte sich nicht für Erins Geschwätz, aber wenn er alleine auf der Mauer saß und sie über den riesigen, mit Basketballkörben und Sitzbänken ausgestatteten Pausenhof beobachtete, stellte er sich vor, wie es wohl wäre, von ihr geküsst zu werden. Erin Muldoon war nach Sharon Brennan das schönste Mädchen an der Schule, jedenfalls in ihrer Altersklasse. Das war auch der Grund, weshalb es sie nicht kümmerte, was die anderen von ihr dachten, wenn sie mit Wilbur redete. Die Jungs waren verrückt nach ihr und wussten, dass Wilbur keine Konkurrenz darstellte. Und die Mädchen, alle darum bemüht, etwas von ihrem Glanz abzubekommen, ließen ihr Wilbur als Laune durchgehen, als exzentrische Pausenbeschäftigung, mit der sie sich amüsierte, natürlich auf Wilburs Kosten.
Wilbur mochte seine neuen Lehrer nicht, weder den dicken, nuschelnden Mr. O’Riordan noch den eitlen Mr. Loughrey, der sich durch Wilburs Intelligenz herausgefordert fühlte und seinem Musterschüler in jeder Unterrichtsstunde so viele Fragen stellte, bis dieser endlich, und meist absichtlich, eine falsche Antwort gab. Sympathien hegte Wilbur nur für Miss Cullen, die junge Englischlehrerin, die dünn und bleich wie er selber war und vor der Klasse so gehemmt, dass sie kaum je den Blick aus den Büchern hob, geschweige denn die Stimme, wenn sie etwas vorlas. Fintan Taggart war weit weg, an seiner Stelle versuchte jetzt Pat Harrahill, aus dem kleinsten und schmalsten Jungen der Schule einen kräftigen Kerl zu machen. Dabei schikanierte der achtfache Vater Wilbur nicht, sondern behandelte ihn wie den Lieblingssohn, den es auf Vordermann zu bringen galt. Seine ruppige Fürsorge und aufmunternden Worte änderten jedoch nichts an der Tatsache, dass Wilbur zu klein und schwach für
Weitere Kostenlose Bücher