Nach Santiago - wohin sonst
sagt? Anscheinend doch, denn zum Abschied zieht er aus seiner Zigarettenschachtel 4 Gauloises und überreicht sie mir wortlos. Ich nehme an, er hatte einfach das Bedürfnis, mir etwas Gutes zu tun, mir seine Sympathie zu zeigen. Was er wohl von mir gedacht hat? Landstreicher? Kann schon sein, das Wort „pélerin“ schien ihm nicht viel zu sagen. Oder doch? Ist auch egal, auf jeden Fall denke ich noch lange an diese kleine, berührende Geste eines einfachen Menschen einem vollkommen Fremden gegenüber.
Bald bin ich in Toulouse. Es ist eine alte, schöne Stadt, vor allem für mich, an diesem traumhaften warmen Frühlingsnachmittag. In den Straßen, auf den Cafe-Terrassen, auf den Plätzen der Stadt sehe ich viele schöne Frauen in luftigen, eleganten Frühlingskleidern, und eine gefällt mir besser als die andere. Meine Augen freuen sich, ich habe ja schon seit einiger Zeit — ob das typisch für Pilger ist? — keine Frauen mehr gesehen. Da spüre ich schon, daß ich ziemlich alleine bin. Ob mein Anblick ihnen auch gefällt, ist eine andere Frage. In meiner Aufmachung komme ich mir jedenfalls vor wie ein Wesen von einem anderen Stern, absolut unpassend in dieser eleganten, städtischen, bürgerlichen Atmosphäre. Die Blicke mancher verraten mir, daß sie ähnlich denken. Ich sehe Neugier, Lächeln, aber auch Befremden, und einige Male höre ich auch, besonders von Halbwüchsigen, den Kommentar „Tierausbeuter“ (weil Ajiz ja Satteltaschen trägt). Ich schenke dem wenig Beachtung, wahrscheinlich ist das eh nur witzig gemeint, aber zum Bleiben habe ich keine Lust. Als Pilger scheint mich jedenfalls niemand zu identifizieren. Auch nicht vor der Kathedrale St. Sernin. Ein Besuch dieses prächtigen romanisch-gotischen Gotteshauses ist für jeden Jakobspilger Pflicht, stritten sich doch im Mittelalter Toulouse und Santiago darum, wer das echte Grab des Pilgerapostels beherberge. Da meine Ansicht, daß keine der beiden Städte diese Ehre für sich in Anspruch nehmen kann, nicht zählt, hat, wie hinlänglich bekannt ist, Santiago diesen Streit für sich entschieden. Was sicher — und darin ist wohl der Hauptgrund für den Zwist zu suchen — große ökonomische Vorteile für den Sieger mit sich brachte . Außerdem wäre meine Pilgerfahrt jetzt schon zu Ende, und das geht doch auch nicht! Toulouse zählt jedoch immer noch zu den wichtigsten Stationen des Jakobsweges überhaupt.
Da es in der Stadt keine Pilgerunterkunft gibt, gehe ich gleich weiter, um noch am Abend in Colomiers zu sein, zwölf Kilometer westlich von Toulouse. Am westlichen Stadtrand, bei einer Gänsefuß-Kreuzung (drei Abzweigungen), gehe ich wieder einmal falsch — ich könnte aus der Haut fahren! Diesmal gebe ich aber nicht nur mir selbst die Schuld, obwohl ich natürlich für meinen Weg — als Sinnbild meines Lebens — letztendlich immer alleine verantwortlich bin. Die Markierung ist, wie überhaupt in den Städten, inexistent, ein Einheimischer gibt mir auf meine Frage nach dem Weg nach Colomiers die falsche Auskunft, und es ist Spätnachmittag, das heißt, ich bin müde, und die Konzentration läßt nach. Wer immer auch schuld ist, die Konsequenzen sind fatal. Die sowieso schon mühsamen Kilometer auf der vielbefahrenen Ausfallstraße — und das zur Rush-hour — werden durch den beträchtlichen Umweg, zu dem ich nach dem späten Bemerken meines Irrtums gezwungen bin, zu einem wahren Alptraum. Ajiz leidet wahrscheinlich noch mehr, da seine Schnauze, von vornherein schon viel empfindlicher als meine Nase, sich unmittelbar auf Auspufftopfhöhe befindet. Wir setzen eigentlich nur mehr mechanisch Fuß vor Fuß, und ich versuche, nicht zuviel darüber nachzudenken, warum ich mir und Ajiz das antue — am Rande einer hochfrequentierten Schnellstraße zu gehen und aus den Autos heraus wie ein Außerirdischer angestarrt zu werden. Außer weitergehen gibt es, nüchtern betrachtet, eh keine Alternative. Autostoppen ist absolut zwecklos und hinsetzen und weinen, wozu ich große Lust habe, ebenso.
Es ist schon dunkel, als wir in Tinturier, dem Vorort von Colomiers, wo sich das Gîte befindet, ankommen. Ich hätte keine Energie und auch keine Chance, in dieser ausgedehnten Vorstadtsiedlung, wo alle Häuser und Straßen gleich aussehen, den Reitstall zu finden, der laut Führer Pilger über Nacht beherbergt. Und schon gar nicht in der Dunkelheit. Schließlich rufe ich von einer Telephonzelle aus im Reitstall an (zur Abwechslung einmal ein Lob auf den
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