Nach Santiago - wohin sonst
einsame Gehen über kleine Landstraßen, dem kalten Wind trotzend und den manchmal doch recht tiefen Wasserlachen ausweichend, ist gegenüber den vergangenen Tagen geradezu romantisch.
Auch Ajiz weiß das zu schätzen. Er trottet nicht, wie in den letzten Tagen, mit hängendem Kopf hinter mir her, sondern läuft wieder circa 30 bis 40 Meter vor mir her und wartet auf mich, wenn der Abstand zwischen uns zu groß wird. Auf diese Weise spielt er „Kundschafter“ und hat zudem noch die Illusion, alleine auf freier Wildbahn durch das Land zu streifen und zu bestimmen, wo es langgeht. Denk’ ich mir halt.
Aber am Nachmittag kommt es dann doch wieder dick — eine Stunde lang extrem starker und kalter Wind mit Regenschauern. Das genügt, um ordentlich durchnäßt zu werden. Es ist schon interessant, wie wichtig das Wetter auf einer Pilgerfahrt wird. Aber eigentlich logisch, spielt sich doch mein Leben zum Großteil im Freien ab, bin ich momentan doch ein sogenannter „Outdoor-Mensch“. Gehen ist meine Hauptbeschäftigung, daneben haben nur mehr Essen und Schlafen Platz, und Kleinigkeiten wie Tagebuchschreiben, Einkaufen, Schlafplatzsuchen. Heute waren es wieder 33 Kilometer, teilweise durch total matschiges Gelände, und das nicht nur über ein paar hundert Meter, sondern gleich einige Kilometer! Die Alternative heißt Asphalt, wo einem bald die Fußsohlen zu brennen beginnen. Aber man kommt wenigstens voran.
Ja, es ist wirklich eine Pilgerfahrt, auf der ich mich befinde, von Tourismus bin ich momentan meilenweit entfernt. Die Etappen sind sehr lang — die spärlichen Unterkunftsmöglichkeiten und das schlechte Wetter zwingen mich dazu — und die Tage sind doch noch ziemlich kurz. In der Früh waschen, frühstücken, packen und dann gleich weg. Da bleibt nicht viel Zeit für Urlaub, auch nicht für lange Pausen unterwegs, wenn ich nicht zu spät — das heißt nach 18 Uhr — im Zielort ankommen will. Das hat sich heute wieder in Revel gezeigt. Das Tourismusbüro sperrt um 18 Uhr zu, nachher wäre es äußerst schwierig, Auskunft über eine Pilgerunterkunft oder eine andere günstige Schlafmöglichkeit zu bekommen.
Inklusive 40 Minuten Mittagsrast war ich heute neun Stunden unterwegs und erreiche Revel um 17 Uhr 30. Die Hetzerei hat sich gelohnt, im Büro bekomme ich die Auskunft, daß es eine Pilger- und Landstreicherunterkunft im Dorf gibt, den Schlüssel dafür müsse ich bei der Gemeindepolizei holen, aber ich solle mich beeilen, denn die machen um 18 Uhr dicht.
Die Notschlafstelle entpuppt sich als recht finsteres und schmutziges Loch, aber sie verfügt über ein Bett, ein Klo, eine Kochmöglichkeit und sogar eine Heizung. Da ich einen Schlafsack habe, stört mich das schmutzige Bett nicht, ich habe den Unterschlupf für mich alleine, da um diese Jahreszeit noch kaum Landstreicher — „Frères de Route“ — unterwegs sind, ich habe ein Dach über dem Kopf, es ist warm, ich kann kochen und mich ausschlafen — was will ich mehr?
Bevor ich aber den Schlüssel bekomme, werden auf der Polizeistation noch meine Personalien aufgenommen — Premiere! Ich habe den Eindruck, dem diensthabenden Polizisten ist es ziemlich egal, ob ich Pilger oder Landstreicher bin.
Morgen stehen 37 Kilometer auf dem Programm, hoffentlich spielt das Wetter endlich wieder einmal mit. Heute ging ich durch hügelige, freundliche Landschaft, durch kleine Dörfer und an vielen Bauernhöfen vorbei. Eigentlich schön. Es stimmt schon, man sieht viel mehr, wenn man zu Fuß unterwegs ist. Aber noch überwiegt doch die Anstrengung.
Ich nehme mir fest vor, in Spanien kürzere Etappen zu machen, ein bis zwei Stunden pro Tag weniger, ich will ja keinen Rekord aufstellen! Wenn es warm und trocken wäre, könnte ich hin und wieder auch biwakieren, Abend- und Morgenstimmung im Freien genießen... Aber so...
Dienstag, 7. März Revel — Avignonnet
La Rigole
Meine Freude kennt keine Grenzen, als ich in der Früh aus der finsteren, fensterlosen Notschlafstelle in einen strahlendblauen, kühlen, klaren und von der Sonne überschwemmten Märzmorgen hinaustrete!
Und der Tag hält, was der Morgen verspricht, er wird zu einem der schönsten überhaupt. Keine Straße, keine Autos, kein Asphalt, kein Regen oder Schnee. Vom Morgen bis zum Abend gehen wir auf dem Treppelweg der „Rigole“, einem Kanal, der als Wasserzulauf für den großen „Canal du Midi“ dient. Dieser verbindet mit seinen 240 Kilometern den Atlantik mit dem Mittelmeer und
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