Nach Santiago - wohin sonst
Führer, der in dieser Hinsicht gute Informationen liefert), um mich nach dem Weg zu erkundigen. Zu meiner riesengroßen Freude aber — ich hätte nie damit gerechnet — werde ich von einer freundlichen, jungen Frau, die im Reitstall arbeitet, mit dem Auto abgeholt! Das Gîte ist zwar nicht in Betrieb, aber ich werde trotzdem freundlich aufgenommen. Und Pilger schlafen hier gratis, wird mir vom netten, redseligen Chef des Reitclubs mitgeteilt. Das Haus, in dem ich schlafe, ist ungeheizt und hat kein Wasser (Wintersperre), aber eine Matratze und sogar ein Polster. Und ich kann kochen, also was will ich mehr?
Es ist schon eigenartig. Seit nunmehr einer Woche habe ich jeden Tag mit eher größeren Problemen zu kämpfen, vor allem mit dem absolut gräßlichen Wetter, aber nicht nur. Auf der Schwierigkeits-Skala würde ich die letzten Tage ganz oben einordnen. Und trotzdem, jeden Tag gab es auch Höhepunkte, vor allem Begegnungen mit Menschen — und manchmal mit der Sonne — , die mich die Mißlichkeiten sofort vergessen oder zumindest in einem viel milderen Licht sehen ließen. So wie jetzt. Ich bin zwar müde, fühle mich aber rundherum wohl. Vom Aufgeben kann gar keine Rede sein, und ich freue mich auf morgen!
Ich werde den Verdacht nicht los, daß daran mein Guter Geist des Weges schuld ist!
3. Kapitel
Hinein in den Frühling
Freitag, 10. März Colomiers — L’Isle-Jourdain
Zurück zur Normalität
Das gute Wetter hält an, Gott sei Dank! Es weht zwar immer noch ein scharfer Wind, zum Gehen ist das aber sogar angenehm. — Was aber wirklich stört — denn ohne geht es anscheinend nicht — ist die schon seit Tagen währende Schlammschlacht. Sobald der Weg auf eine Wiese oder ins Feld führt, und das ist recht häufig der Fall, versinken Ajiz und ich im Fetten (seine vor Dreck starrenden Satteltaschen wasche ich eh nur mehr notdürftig). Ganz schlimm ist es, wenn vorher ein Traktor gefahren ist, was ich aber akzeptiere. Der Bauer muß ja aufs Feld, es ist seine Arbeit, davon lebt er — und wir auch.
Als Antwort auf die Schlammschwemme nehme ich mir mehr und mehr die Freiheit, meinen eigenen Weg zu gehen — paßt das auch als Metapher auf mein Leben? — und versuche nur, den markierten Weg nicht gänzlich aus den Augen zu verlieren. (Ja, das paßt auf mein Leben!)
Manchmal frage ich mich schon, was sich die „Jakobswegmacher“ in Frankreich gedacht haben, als sie die Route festlegten. Mein Verdacht erhärtet sich langsam zur Gewißheit, daß der Weg — ein Weitwanderweg GR (= Grande Randonnée) — gar nicht für Pilger, sondern für Ein-Tages- oder Wochenendwanderer konzipiert wurde. Anders kann ich mir gar nicht erklären, warum heute z. B. die Markierung des Jakobsweges nicht einer Forststraße folgt, die einen riesigen Wald schnurstracks in Nord-Süd-Richtung durchschneidet, sondern einem kleinen Pfad, der denselben Wald im Zickzackkurs durchquert, dabei mehrmals die Forststraße schneidet, aber im Gegensatz zu ihr heute auf Grund des Schlammes und der stellenweise extrem tiefen Wasserlachen nicht passierbar ist. Und was mich am meisten stutzig macht: Dieser kleine Pfad kann unmöglich der historische Pilgerweg sein! Hier genießt eindeutig die Wanderer-Logik (= Pfade in schöner Landschaft) gegenüber der Pilger-Logik (= unversehrt und möglichst direkt nach Santiago zu gelangen) den Vorrang. Nachdem ich Pilger bin, ist die Entscheidung für mich klar, ich nehme die Forststraße. Eine Pilgerherberge, eine wichtige Kirche oder ein Wallfahrtsort, oder Gründe der Sicherheit (Brücke über einen Fluß, Fußweg statt Straße oder gar Autobahn) würden einen Umweg und auch einen Schlammweg rechtfertigen, aber so...
Heute abend, in L’Isle-Jourdain, wird Henry zu mir stoßen. Er ist Katalane aus Perpignan, Jurist und Raumplaner, und wir kennen uns seit 15 Jahren. Er ist zwar überzeugter Atheist und überhaupt ein Zyniker, aber wir teilen einige Vorlieben miteinander, unter anderem das Wandern. So wird er mich auf der morgigen Etappe begleiten. Ich freue mich schon sehr darauf, das wird meine Pilgereinsamkeit etwas unterbrechen.
Noch vor 17 Uhr bin ich in L’Isle-Jourdain, und im Gemeindeamt wird mir ein Zimmer im Jakobshospiz zugewiesen. Das Hospice St. Jacques aus dem Mittelalter gibt es nämlich noch, nur ist es mittlerweile — einer seiner ursprünglichen Bestimmungen gemäß — zum Altersheim des Ortes geworden. Es steht jedoch auch Jakobspilgern für eine Nacht gegen Entgelt (55 Francs)
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