Nach Santiago - wohin sonst
wurde im 17. Jahrhundert als Schiffsverbindung zwischen Bordeaux und Sète errichtet.
Es ist ein wunderbares Gehen am Rande der auf ihrer gesamten Länge von Bäumen gesäumten Rigole. Ich muß mich überhaupt nicht auf den Weg konzentrieren, er liegt klar und deutlich vor mir, und ich kann seit langem wieder einmal meine Gedanken einfach frei fliegen lassen. Auch Ajiz kann wieder so tun, als würde er nicht zu mir gehören, und geht weit vor mir, höchstwahrscheinlich seinen Träumen von Freiheit, schönen Karelierinnen (er ist ein Karelischer Bärenhund) und jagdbarem Wild im Überfluß nachhängend. Und wie schon seit Beginn der Pilgerfahrt sind wir auch heute mutterseelenalleine auf dem Weg.
Am frühen Nachmittag komme ich an einem Bauernhaus vorbei, wo meine Bitte um Wasser mit der Einladung auf ein Glas Wein beantwortet wird. Die ich natürlich annehme. Die Begegnungen mit den Menschen, die am Weg leben, gehören zu den schönsten Momenten meiner Reise.
Am Abend fällt noch ein Wermutstropfen in die Süße dieses außergewöhnlichen Tages. Wieder einmal ist es mir gelungen, die Regel Nr. 1 des Pilgers „Schau lieber einmal zuviel als einmal zuwenig auf die Karte!“ nicht zu beachten. Natürlich habe ich Ausreden: der Tag war lang, ich bin müde, es war einfach zu verlockend, am Canal du Midi entlang weiterzugehen, auf den ich am Abend stoße —
Mein Gott, bin ich blöde! Der Irrtum wird erst spät bemerkt, zwei Kilometer Umweg sind die Folge, das macht für heute also insgesamt 39 km. Entsprechend grantig und müde komme ich — es ist schon dunkel — in Avignonet-Lauragais an. Ich weiß, daß es im Ort kein Gîte gibt, also geh’ ich gleich ins nächste und wie sich herausstellt einzige Hotel des Dorfes. Es liegt an der Nationalstraße nach Toulouse, die Gäste sind großteils Reisende, außer mir ist aber keiner zu Fuß unterwegs. Der Hotelbesitzer ist Hundefreund, er lädt Ajiz zum Abendessen ein. Mich nicht.
Mittwoch, 8. März Avignonet — Montgiscard
Nacht im Geisterschloß
In der Früh weckt mich — das Geräusch von auf mein Fenster klatschenden Regentropfen! Das kann doch nicht wahr sein! Wieder beschleicht mich der Gedanke ans Aufgeben. Sollen Regen, Kälte und Wind jetzt — nach Ajiz — meine treuesten Begleiter werden? War die erste so schöne Woche nur eine Falle, in die ich Naivling hineingetappt bin, und ist das Verhältnis fünf Minuten Sonne zu fünf Stunden Regen und Wind das in dieser Region vorherrschende?
In der Zeitung, in die ich beim Frühstück im Hotel hineinschaue — wie weit bin ich doch schon von der Welt entfernt, die Seite mit dem Wetterbericht interessiert mich am meisten! — steht, daß ab morgen, Donnerstag, das Wetter besser werden soll. Wenn das stimmt, werde ich diesen einen Regentag wohl auch noch überleben, mache ich mir selber Mut. Sonst ist ja niemand da, der oder die das tun könnte.
Gut, daß ich mich innerlich auf gräßliche Gehbedingungen eingestellt habe, denn so kommt es auch — eigentlich fast schon wie gewohnt: Regen, Wind, naß, kalt, unfreundlich. Dafür ist der Wegverlauf okay.
Ich beschließe, teilweise meine eigene Spur zu ziehen und mich mehr an der Karte als an der Markierung bzw. der Wegbeschreibung im Führer zu orientieren. Der markierte Pilgerweg verläuft nämlich auf der Straße von Dorf zu Dorf, hügelauf, hügelab, aber immer parallel zum Canal du Midi. Und da bietet sich der Treppelweg doch als ideale Alternative an — landschaftlich schön, keine Steigungen, kein Asphalt, keine Orientierungsprobleme. Mag schon sein, daß vor dem Bau des Kanals die Pilger von Ort zu Ort gezogen sind, sie hatten ja auch nicht die verlockende Alternative des Treppelweges vor sich. Heute jedoch, und ich fasse in diesem Moment den formellen Beschluß, ist der Treppelweg genauso authentisch wie der Weg über die Dörfer. Wie alt muß denn ein Weg sein, daß er als authentisch gilt? Und wer beschließt das?
Ich bin mir ziemlich sicher, daß die Pilger früher auch nicht einfach so zum Spaß zickzack durch die Landschaft gingen, sondern, wenn es ging, den kürzesten, einfachsten und sichersten Weg nahmen. Ich habe den Verdacht, daß es keine Pilger, sondern eingefleischte „Kulturwanderer“ waren, die den Verlauf des heutigen Jakobsweges festgelegt haben. Man darf nicht vergessen, daß das Ziel damals wie heute darin bestand, nach Santiago zu gelangen, so sicher und bequem wie möglich, und nicht, in jedem Dorf seine Markierung zu
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