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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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zur Verfügung. Wieder bin ich erstaunt, wie lebendig in Südfrankreich die alte Tradition der Jakobspilgerschaft noch gehalten wird.
    Henry ist ein Feinschmecker, und wir müssen unbedingt im Restaurant essen. Die Gegend sei ja für ihre Gänsespezialitäten bekannt, und das dürfe er sich auf keinen Fall entgehen lassen. Also ist es heute nichts mit meiner abendlichen Pilgersuppe, aber ich glaube, das kann ich verkraften. Henry lädt den armen Pilger ein, wir essen fein und ausgezeichnet. Hin und wieder ein Hauch von Zivilisation ist gar nicht so schlecht!
    Dafür habe ich ihm einen Schlafplatz im Hospiz erschwindelt, er ist ja kein Pilger. Ein frischüberzogenes Bett, eine Tuchent, eine heiße Dusche, zum ersten Mal seit dem Hotel in Avignonet!

    Samstag, 11. März L’Isle-Jourdain — Gimont

Zu Gast im Krankenhaus

    Es ist jetzt der dritte (!) Tag, an dem es nicht regnet, ich kann mein Glück kaum fassen. Wind und Sonne haben ihre Arbeit getan, die Wege sind trockener, und wir drei kommen gut voran. Zum Frühstück gab es übrigens Milchkaffee und Croissants, ein Hoch den Klischees!
    Ich habe mittlerweile schon knapp 500 Kilometer in den Beinen, Henry hingegen ist „normal“ trainiert. Mir dessen bewußt habe ich für heute eine kürzere Etappe festgelegt, und diese Entscheidung erweist sich als goldrichtig. Schon nach zwei Stunden — wir sind erst gegen 10 Uhr aufgebrochen — fragt Henry nach der Mittagspause, und nur unter Aufbringung all meiner Überredungskünste kann ich ihn davon überzeugen, daß es sinnvoller ist, in jeder Hinsicht, physisch und mental, noch vor der Mittagspause etwas mehr als die Hälfte der Tagesstrecke zurückzulegen. Man gehe dann, bildlich gesprochen, nach der Rast „bergab“.
    Die von Henry lange herbeigesehnte Rast hat es dann ordentlich in sich. Er hat ein komplettes Menü mitgebracht: Wein aus der eigenen Produktion, Schinken, katalanische Blutwurst, Brot, Käse, Pâté, Obst. Wir sitzen am Wegrand in der Sonne, schlemmen, was das Zeug hält, und erfreuen uns unseres Daseins. Ein kleines Verdauungsschläfchen — Henry besteht darauf — verlängert die Mittagspause bis in den frühen Nachmittag, und nachher tun wir uns einigermaßen schwer, unseren Gehrhythmus wiederzufinden. Wenn Fasten, dann Fasten, wenn Rebhuhn, dann Rebhuhn, denke ich mir mit der heiligen Theresia von Avila, aber in dieser Art meine gesamte Pilgerfahrt zu bestreiten, kann ich mir ganz und gar nicht vorstellen. Unser beider Zugänge zum Pilgern sind doch meilenweit voneinander entfernt.
    Apropos. Da die heutige Etappe die bisher kürzeste ist — 22 Kilometer, sonst waren es fast immer über 30 Kilometer — , kommen wir trotzdem noch so zeitig in Gimont an, daß sich vor der Suche nach einem Schlafplatz sogar noch ein gemeinsames Bier im Bistro ausgeht.
    Laut Führer gibt es in Gimont keine Unterkunftsmöglichkeit für Pilger, aber ich versuche es trotzdem. Sowohl der Barkeeper als auch nachher der Pfarrer verweisen mich an das örtliche Krankenhaus. Und tatsächlich, Durchreisende — also nicht nur Pilger, sondern auch Landstreicher und anderes Straßenvolk — werden für eine Nacht kostenlos untergebracht und verpflegt. Man muß nur, damit die Verwaltung nicht aufbegehrt, ein ärztliches Schreiben vorweisen, das bestätigt, daß. man das Krankenhaus aus gesundheitlichen Gründen aufgesucht hat. Wozu ohne jegliche Fragen auch jeder Arzt im Ort bereit ist. In meinem Fall ist es die Ärztin des Krankenhauses selbst, die, ohne mich zu sehen, nur auf der Grundlage meines Personalausweises, den ich hinterlasse, während ich vor Geschäftsschluß noch schnell einkaufen gehe — morgen ist ja Sonntag — das Papier ausstellt. Ich weiß übrigens bis heute nicht, welcher Krankheit ich die Einweisung in dieses vorzügliche Quartier verdanke — wahrscheinlich Auszehrung und Erschöpfung.
    Bei meiner Rückkehr vom Supermarkt treffe ich die Ärztin noch kurz, und es stellt sich heraus, daß sie den Verfasser meines Führers, den ich so oft verflucht habe, persönlich kennt. Es ist ein über 1,90 Meter großer Amerikaner, ein fanatischer Wanderer, dessen normale Gehgeschwindigkeit weit über der eines Durchschnittsmenschen liegt. Da habe ich die Erklärung für die oft wahnsinnig kurzen Zeitangaben! Sie möge ihm doch bitte von einem leidgeprüften Pilger schöne Grüße und einige Verbesserungsvorschläge für den Führer ausrichten.
    Es ist Abend, ich bin untergebracht, und Henry müßte eigentlich den Zug

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