Nach Santiago - wohin sonst
zurück zum Auto nehmen, das er in l’Isle-Jourdain gelassen hat. Da macht er mir noch einen verlockenden Vorschlag, den abzulehnen mir äußerst schwerfällt: „Gehen wir doch noch gemeinsam abendessen, ich lade dich ein, ich zahle dir auch das Hotel. Und ich fahre erst morgen früh nach einem gemeinsamen Frühstück mit dem Zug zurück!“ Sehr verlockend! Nach so vielen Nächten, auf Bänken und aufgebockten Türen, am Steinboden, in der Kälte, ohne Möglichkeit zu duschen. Aber dann gewinnt doch der Pilger in mir Oberhand. Ich möchte mein Pilgerdasein so konsequent wie möglich leben, und dazu gehören eben auch die Einfachheit und die Abhängigkeit von der Gastfreundschaft anderer. — Dankbar nehmen lernen.
Gerade hier, im Krankenhaus von Gimont, empfinde ich diese Tradition der Gastfreundschaft mir als Pilger gegenüber so mittelalterlich-archaisch (sie stammt tatsächlich aus dem Mittelalter), daß es mir als Bruch mit meiner selbstgewählten (und selbstdefinierten) Pilgerexistenz erscheinen würde, sie nicht anzunehmen. Sogar Ajiz kommt in den Genuß dieser außergewöhnlichen und herzerwärmenden Gastfreundschaft. Nach Anweisung des Krankenhausdirektors darf er nicht ins Haus, er muß erst einmal im Hof bleiben — an der Leine! Voller Bedauern teilen mir dies die Krankenschwestern mit, und mir fällt es irrsinnig schwer, mich von ihm zu trennen. Das erste Mal, seitdem wir — vor 17 Tagen — aufgebrochen sind. Er versteht überhaupt nicht, was da vor sich geht, ich höre ihn draußen verzweifelt bellen und jaulen. Aber um 22 Uhr ist Schichtwechsel, auch der Direktor geht einmal nach Hause. Wir beide tun dem Nachtpersonal so leid, daß es beschließt, den Weisungen des Direktors zuwiderzuhandeln und Ajiz bei mir im Zimmer schlafen zu lassen. Zu diesem Zweck wird extra ein Waschraum geputzt und hergerichtet, ein Bett für mich hineingeschoben, und so haben wir, ganz für uns alleine, ein Zimmer mit Klo und Dusche (Klo und Dusche sind natürlich nur für mich interessant). Und um das Glück vollzumachen, wird mir noch ein warmes Abendessen serviert! Ein bißchen schlechtes Gewissen rührt sich noch in mir, weil ich Henrys Einladung abgelehnt und ihn sozusagen alleine gelassen habe. Aber die Freude darüber, diese Erfahrung machen zu dürfen, überwiegt bei weitem. Der Jakobsweg hat mir zwar nichts versprochen, dafür hält er aber alles — es ist toll!
Sonntag, 12. März Gimont — Auch
Ajiz’ Geburtstag
Diese wunderbare Gastfreundschaft findet beim Frühstück ihre Fortsetzung. Croissants „a volonte“! Wenn ich wollte, könnte ich mich damit vollstopfen, aber ich lasse es bei drei bewenden. Ajiz bekommt sein Geburtstagsfrühstück — heute wird er fünf Jahre alt — Milch und zwei Croissants, die Schwestern sind ganz verliebt in ihn. Die Schwester vom Vortag, von der ich den Tip mit der ärztlichen Bestätigung bekam, ist auch wieder da und begrüßt uns freudig. Sie war am Abend nach Hause gegangen und hatte sich von dort noch telephonisch vergewissert, ob wohl alles geklappt habe.
Ganz rührend ist für mich mit anzusehen, wie die Insassen des Krankenhauses — es sind Alte und Behinderte — , mit denen ich im Speisesaal frühstücke, auf Ajiz reagieren. Jeder will ihn berühren und streicheln, sie lachen und strahlen übers ganze Gesicht, stellen mir Fragen über ihn, sind glücklich, jemanden zu haben, dem sie die Zärtlichkeit, die sie selbst wahrscheinlich sehr vermissen, entgegenbringen können. Ich sehe, wie sinnvoll es ist, den Insassen von Alters- und Pflegeheimen die Haltung von kleinen Haustieren zu gestatten. Ein paar solcher Häuser gibt es ja Gott sei Dank schon.
Zum Abschied bekomme ich aus der Küche noch ein Riesensandwich mit Schweinsbraten, dazu Käse und Obst, als Jausenpaket mit auf den Weg. Herz, was begehrst du mehr! Obendrein verläuft der Tag so, wie er begonnen hat. Es herrscht fast sommerliches Wetter, und der Weg ist beinahe trocken — endlich! Er führt uns durch eine sanfte, leicht gewellte, von Ackern, Rainen und Bächen durchzogene Landschaft, hin und wieder kommen wir an einem Gehöft oder einem kleinen Weiler vorbei.
Das sonn- und geburtstägliche Mittagessen wird bei strahlendem Sonnenschein in bukolischer Landschaft am Ufer eines kleinen Bächleins eingenommen, der Schweinsbraten natürlich mit Ajiz geteilt. Die 30 Kilometer nach Auch, der Hauptstadt des Departements Gers , 24.000 Einwohner, vergehen wie im „Flug“, schon vor 17 Uhr stehe ich vor
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