Nach Santiago - wohin sonst
sind. Sie rechnen etwa mit einem halben Jahr insgesamt. Da sie mit Autos unterwegs sind, müssen sie jedesmal einen riesigen logistischen Aufwand betreiben, um am Sonntag abends wieder zu ihren Fahrzeugen zu gelangen. Mindestens eines muß samstags früh am Zielpunkt abgestellt werden, mit dem die Chauffeure der anderen Autos zum Startpunkt zurückgebracht werden, damit sie alle Autos „nachholen“ können. Mir wäre das viel zu kompliziert, und außerdem, mit Pilgern hat das, so wie ich es sehe, wenig zu tun. Aber in Spanien ist der Jakobsweg eine nationale Institution und fester Bestandteil der spanischen Identität, und da muß man praktisch den Jakobsweg einmal in seinem Leben „machen“, egal wie. Mit dem Bus, dem Auto, zu Fuß, mit dem Fahrrad, in einem Stück, in Wochenabschnitten (beliebt ist die Karwoche) oder eben wochenendweise. Von Roncesvalles, von Burgos, von León aus, nur den galizischen Teil (150 Kilometer) oder mindestens die letzten 100 Kilometer zu Fuß — für Reiter und Radfahrer sind es 200 — , die vorgeschrieben sind, um den Anspruch auf die offizielle Pilgerurkunde, die „Compostela“, zu erlangen.
Am Abend gibt es ein Wiedersehen mit den Brasilianern. Ich hatte nicht mit ihnen gerechnet, weil ich sicher war, daß sie schon vor Monreal in Izco übernachtet haben und die Etappe Izco — Puente besonders für Eugenia viel zu lange gewesen wäre. Sie haben zwar in Izco übernachtet, sind aber heute per Autostop nach Pamplona und von dort mit dem Bus nach Puente gekommen, das heißt Eugenia und Alex. Denn João ist tapfer weiter zu Fuß gegangen und hat tatsächlich die Strecke Izco — Puente geschafft. Er stolpert um 22 Uhr erschöpft, aber übers ganze Gesicht strahlend, zur Tür herein. Wieder kochen sie Makkaroni mit Rahm, seit meinen Tips in Sangüesa mit Knoblauch und Gewürzen, anscheinend ist das ihre Pilgerdiät. Alle drei sind 23 Jahre alt, Studenten aus São Paulo, Kinder wohlhabender Eltern. Bis Dezember wollen sie in Europa bleiben. Wir diskutieren angeregt, teilweise sogar heftig, auf spanisch und portugiesisch, über die Frage, wer ein „echter“ Jakobspilger ist. Vom Auto begleitet, auf Wochenenden verteilt, zu Fuß in einem Stück, mit dem Autobus... was „gilt“? Ich merke, daß ich ziemlich streng bin und hohe — zu hohe? — Ansprüche stelle , wie immer. Ich muß schon zugeben, bisher war meine Pilgerfahrt nicht immer eine entspannte, lockere Sache — aber sollte sie das sein? — , sondern immer wieder eine Herausforderung, oft ein Kampf gegen das Wetter, gegen den schlechten Zustand des Weges, gegen die manchmal miserable Markierung und Wegbeschreibung im Führer, einige Male sogar gegen die Zeit. War der Wunsch, noch vor Samstag mittag in Puente anzukommen, wirklich notwendig?
5. Kapitel
Die Prüfung
Sonntag, 26. März
Ruhetag I
Ausschlafen, ausruhen, gemütlich frühstücken, mich mit den Seminaristen unterhalten, Zeitung lesen, Wäsche waschen, Siesta machen, nachdenken...
Die Seminaristen sind ganz begeistert von Ajiz und sehr besorgt um ihn. Sie kommen immer wieder vorbei, bringen Sachen zum Naschen, vom Nachtisch abgespart, streicheln Ajiz mitfühlend und unterhalten sich mit mir. Anscheinend bringe ich etwas Abwechslung in ihren doch eher eintönigen Seminaralltag. Und endlich haben sie einen Pilger zur Verfügung, der nicht gleich in der Früh weiterzieht und der zudem noch fließend spanisch spricht!
Montag, 27. März
Ruhetag II
Jetzt besteht kein Zweifel mehr, Ajiz ist ziemlich krank, anscheinend ist es eine Darminfektion. Andres, der Amtstierarzt von Puente la Reina, an sich eher für Pferde und Rinder zuständig, hat Ajiz untersucht und starkes Fieber festgestellt. Er hat ihm ein Antibiotikum gespritzt und ihm absolute Ruhe verordnet. Für die Behandlung hat er keinen Groschen verlangt. Die Leute sind alle so freundlich und hilfsbereit, ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Ist es die Magie des Pilgerweges oder sind sie immer so? Trotzdem mach’ ich mir um Ajiz große Sorgen. Er tut mir irrsinnig leid und mich plagt das schlechte Gewissen und die Befürchtung, ich könnte verantwortlich sein für seinen Zustand.
Es ist Nachmittag, ich bin alleine in der Herberge, heute sind noch keine Pilger angekommen, ich knie vor Ajiz, streichle ihn und rede ihm gut zu. Vollkommen entkräftet liegt er am Boden, nur mühsam hebt er den Kopf, als er meine Stimme hört. Ich bin den Tränen nahe. Auch, weil mein Weg nach Santiago vielleicht hier
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