Nach Santiago - wohin sonst
Zwischenbilanz. Sie fällt — wen nimmt’s wunder? — überaus positiv aus. Mit Ajiz geht alles bestens, mein Körper ist in einer Verfassung, die er schon lange nicht mehr hatte, und mein Seelenleben präsentiert sich ausgeglichen, heiter und erfüllt. Wie ich so in der kühlen Nachtbrise auf dem Balkon stehe und von der Ebene unter mir die Lichter der Bauernhöfe und Weiler heraufblinken sehe, fast wie ein Spiegelbild der Sterne über mir, denke ich mir, daß ich dem Zustand des Glücks schon ziemlich nahe bin.
Donnerstag, 23. März Artieda — Sangüesa
Navarra
Ein wunderschöner Tag! Zwar ist die Etappe relativ lang (30 Kilometer), sie verläuft jedoch abschnittsweise auf dem gepflasterten historischen Weg, der noch aus der Römerzeit stammen soll. Ich wandere durch eine menschenleere Landschaft, durchquere ausgestorbene, uralte Dörfer, die wie Nester auf den Hügeln kleben, und schwitze am Nachmittag auch schon ganz ordentlich. Die Mittagspause wird auf der Kuppe eines Hügels, im Schatten einer Pinie, zelebriert. Seit Stunden habe ich keinen Menschen mehr gesehen, die Welt gehört mir — uns, Pardon, Ajiz — ganz alleine! Nach einem erfrischenden Schläfchen — wie kann es einem Menschen alleine so gut gehen? — bringe ich die restlichen 17 Kilometer bis Sangüesa problemlos hinter mich. Unterwegs macht mich ein Schild darauf aufmerksam, daß ich Aragon verlasse und Navarra betrete.
Die Herberge in Sangüesa wird von Nonnen betreut, die mich sehr freundlich aufnehmen. Zum ersten Mal jedoch gibt es Probleme mit der Aufnahme meines treuen Gefährten Ajiz. Er darf auf keinen Fall in der Herberge übernachten, schon aus Rücksicht auf andere Pilger, die vielleicht Hunde nicht mögen oder Angst vor ihnen haben. Ich soll ihn über Nacht im Innenhof — so eine Art Lichtschacht — anleinen, da, wo die Radpilger ihre Fahrräder abstellen. Als ob mein Hund ein Fahrrad wäre!
Ich verspreche den Schwestern zwar alles, was sie wollen, aber insgeheim denke ich mir, daß sich wohl ein Weg finden wird, den Ajiz in die Herberge zu schmuggeln. Ich bekomme, nachdem mein Pilgerstatus mittels „Credencial de Peregrino“ bestätigt wurde, einen Schlüssel für die Herberge ausgehändigt, den ich am nächsten Morgen beim Abmarsch wieder gegen meinen als Pfand hinterlegten Pilgerpaß eintauschen soll.
In der Herberge ist es dann soweit: Das historische Treffen (da es mein erstes ist) mit anderen Pilgern findet am 29. Tag meiner Pilgerfahrt endlich statt! Es sind die drei jungen Brasilianer, denen ich schon seit Jaca auf den Fersen bin. Für die Strecke, für die ich zwei Tage benötigt habe, brauchten sie vier! Alex hat den Jakobsweg letztes Jahr gemacht und möchte seine Freundin Eugenia, in die er ganz verliebt ist, unbedingt auch diese Erfahrung machen lassen. Aber es geht ihr gar nicht gut, sie hat die klassischen Probleme, durch die fast jeder Pilger durchmuß: schlechte, kaum eingegangene Schuhe, kein Training, Blasen, Muskelkater. Wahrscheinlich hat sie noch nie in ihrem Leben so lange Strecken zu Fuß zurückgelegt, sie macht mir ganz den Eindruck eines verwöhnten Mädchens aus der brasilianischen Oberschicht. Ich überlasse ihr für ihre Blasen eine Dose Ringelblumensalbe, hoffentlich hilft sie ihr. Der Dritte im Bund ist João, Alex’ bester Freund. Alle drei sind ungemein sympathisch, und ich denke mir, daß es kein Zufall ist, daß ich gerade Lateinamerikaner als erste treffe. Sie sind offen, gastfreundlich und lebensbejahend, wie fast alle Lateinamerikaner, und bald unterhalten wir uns wie alte Freunde, ich auf spanisch , sie auf portugiesisch. Wir kochen uns gemeinsam Makkaroni mit Rahm und Pilzen — auf meine Anregung kommen noch Knoblauch und Gewürze aus meinen Vorräten dazu, zum Wohlgefallen aller — und mit spanischem Rotwein ergibt das ein richtiges Festmahl.
Der venezolanische Rum in der Herberge von Artieda war tatsächlich ihrer, im Zuge ihres „Marschgewichterleichterungsprogrammes“ hatten sie ihn absichtlich zurückgelassen. Ajiz schließen sie sofort ins Herz — wer nicht? und natürlich muß er die Nacht nicht im Lichtschacht verbringen. Ich habe auch gar kein schlechtes Gewissen, denn wenn andere Pilger die Begründung für den Ausschluß von Hunden sind, dann dürfen diese das Verbot wohl aufheben, was die drei Brasilianer gerne getan haben. Aber morgen werde ich sie doch hinter mir lassen, bei dem unterschiedlichen Tempo, das wir haben.
Jetzt bin ich schon die fünfte Woche
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