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Nach Santiago - wohin sonst

Nach Santiago - wohin sonst

Titel: Nach Santiago - wohin sonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Lindenthal
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endet, aber vor allem, weil ich große Angst habe, daß sich Ajiz nicht mehr erholt und vielleicht gar stirbt. In diesem Augenblick kommt ein junger Pilger herein, Jorge, Katalane. Er erkennt sofort, daß es mir schlecht geht, und ich erzähle ihm von Ajiz’ Krankheit. In kürzester Zeit entsteht ein tiefes Vertrauen zwischen uns und wir reden bald miteinander, als würden wir uns schon seit Jahren kennen. Das Gespräch tut mir gut, wahrscheinlich hat auch das mir gefehlt.
    Die Seminaristen sind wahnsinnig nett, vor allem die jüngeren. Sooft sie können, kommen sie vorbei und erkundigen sich nach Ajiz. Zu Mittag hat mir einer von ihnen ein Stück Fleisch vom Mittagessen gebracht. Er hat es mir aber nicht offen gegeben, sondern es unbemerkt in die Küche gelegt. Ich habe es erst entdeckt, als sie schon weg waren. Es ist berührend, wie aufmerksam, neugierig, hilfsbereit und mitfühlend sie sind!
    Am Abend kommen noch zwei Landstreicher, die sich als Pilger ausgeben. Fast muß ich lachen, als sie mir ihre Geschichte erzählen. Sie behaupten, in der entgegengesetzten Richtung auf dem Jakobsweg unterwegs zu sein, um zu erkunden, wie er „beinander“ sei, dann erst möchten sie ihn als „echte Pilger“ in der richtigen Richtung begehen. Sie werden sofort durchschaut, dürfen aber trotzdem bleiben.
    Im Mittelalter soll es nicht viel anders gewesen sein. Ab dem 14. Jahrhundert, so wird berichtet, haben sich immer mehr Landstreicher, Spieler, Bettler, Diebe und Prostituierte auf den Pilgerwegen getummelt. Einerseits, um in den Genuß der Gastfreundschaft von Kirchen, Klöstern und frommen Bürgern zu kommen, andererseits, um die Pilger, die ja oft beträchtliche Summen bei sich trugen — manchmal waren sie jahrelang unterwegs — , um ihren Geldbeutel zu „erleichtern“. So ist es kein Wunder, daß Pilger im Laufe der Zeit mehr und mehr in Verruf gerieten.
    Morgen früh kommt noch einmal der Tierarzt und gibt Ajiz eine Spritze. Hoffentlich wird er wieder gesund!

    Dienstag, 28. März

Ruhetag III

    Der Tierarzt revidiert seine Diagnose. Ich habe ihm vom dunklen und spärlichen Harn von Ajiz berichtet — es könnte auch eine Niereninfektion sein. Aber die Antibiotika, die er Ajiz seit zwei Tagen spritzt, müßten ihm trotzdem helfen, sagt Andres. Ajiz geht es noch immer schlecht, er ist apathisch und kraftlos und hat offensichtlich große Schmerzen in der Hinterhand — er bewegt sich, als hätte er schon 16 Jahre auf dem Buckel.
    Ich bin ratlos und der Verzweiflung nahe. Ich weiß nicht, was ich tun soll, und es fällt mir irrsinnig schwer zu akzeptieren, daß ich nicht wie geplant in Santiago ankommen werde. Daß es ein Element außerhalb meines Einflusses gibt, das mich zur Geduld zwingt — und zur Rücksichtnahme auf jemanden, der nicht weiterkann, Ajiz. Vielleicht hätte ich all das vermeiden können, wenn ich mir und uns von Anfang an mehr Zeit gelassen hätte. Dieser Wahn, große Tagesstrecken zurückzulegen! In Frankreich wegen der oft sehr weit auseinanderliegenden Unterkunftsmöglichkeiten noch verständlich, aber hier in Spanien? Dieses sich freiwillig unter Zeitdruck Stellen, das ist schon eine Schwäche, die ich auch während des Sabbatjahres nicht habe ablegen können. Bin ich trotz der kritischen Distanz also doch auch ein Produkt unserer Zeit, in der Produktivität, Effizienz, Leistung und Geschwindigkeit zentrale Werte darstellen?
    Vielleicht ist das die Botschaft für mich, die ich vom Jakobsweg mitnehmen soll?
    Ganz schwer fällt es mir mitanzusehen, wie die Pilger am Nachmittag ankommen und am nächsten Tag wieder weitergehen! Ich habe riesige Lust, sie zu begleiten, und beneide sie, wenn sie in der Früh aufbrechen. Wo werden all jene schon sein, denen ich bisher begegnet bin? Die drei Brasilianer, wie kommen sie voran, werde ich sie noch einmal sehen? Heute früh ist Jorge weitergepilgert. Wir haben Adressen ausgetauscht, aber wahrscheinlich werden wir uns nie schreiben. Ich werde ihn aber nicht vergessen, sein Trost und seine Anteilnahme in den Momenten, in denen ich so traurig war, bleiben unauslöschlich in meiner Erinnerung.
    Am Nachmittag ist wieder ein Spanier eingetroffen, ein schmächtiger, zäher Bursche, der täglich riesige Entfernungen zurücklegt. Während neun von zehn Pilgern über Roncesvalles gehen, gehört er zu den wenigen, die am Somport-Paß aufgebrochen sind. Unterwegs hat er schon von den drei Brasilianern, von mir und Ajiz gehört. Bei dem Tempo, das er vorlegt, wird er

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