Nach Santiago - wohin sonst
soll. Ich marschiere drauflos, guten Mutes und voller Entschlossenheit, bin gut unterwegs, doch plötzlich — das Ziel habe ich bereits vor Augen — sagt er mir: „Und jetzt bleib stehen! Geh erst weiter, wenn ich es sage, und wenn es eine Woche dauert!“
Was ist denn schon die Zeit? Ich habe keinen objektiven Grund zur Eile, es ist mein Sabbatjahr, ich habe keine Termine außer jenen, die ich mir selbst setze. Also was soll’s? Natürlich, es ist nicht einfach. 900 Kilometer liegen hinter mir, fast zwei Drittel des Weges, ich bin guten Schrittes, in einer guten, dynamischen Spannung. Der „Weg“ füllt den Tag aus, am Abend dann Herberge suchen, einkaufen, Mahlzeit zubereiten, essen — und schlafen. Und jetzt werden aus einem Ruhetag sieben! Die Wäsche ist gewaschen und genäht, das Buch ausgelesen, die vier Sehenswürdigkeiten besichtigt. Es ist wie ein riesiges Loch, in das ich falle. Nur die Sorge um Ajiz und der Wunsch weiterzugehen füllen es aus. Kann ich ohne eine innere Unruhe nicht sein? Ist das, was mir jetzt passiert, Don Juans Prüfung, oder besser gesagt Santiagos Prüfung für mich? Und wann ist sie zu Ende, wann sagt er, daß ich weitergehen darf? Wahrscheinlich erst, wenn er der Ansicht ist, daß ich die Prüfung bestanden habe...
Pilger kommen und gehen, während ich vor Energie fast zittere und doch bleiben muß. Es sind ganz unterschiedliche Persönlichkeiten dabei, hauptsächlich Einzelgänger, aber auch ältere Ehepaare und solche, die es eher gemütlich angehen, dann aber wieder Leistungspilger, die es ziemlich eilig haben. (Gehöre auch ich zu ihnen?)
Gestern kam ein Paar aus Holland, sie 68, er 81. Sie sind mit ihrem Campingbus auf der Rückreise von Santiago. Sie waren in Le Puy gestartet, Maria zu Fuß — sie legte die 1200 Kilometer in zwei großen Abschnitten im Frühjahr und im Herbst 1994 zurück — während Dirk das Begleitfahrzeug chauffierte. Beide sind immer noch erfüllt von den Erlebnissen unterwegs und vom Stolz, es geschafft zu haben. Maria ist eine unwahrscheinlich „junge“ und rüstige Großmutter. Nur für insgesamt 140 Kilometer war sie Chauffeurin, damit auch Dirk seine Pilgerstrecke zu Fuß zurücklegen konnte, um Anspruch auf die „Compostela“, die offizielle Pilgerurkunde, zu haben.
Bewundernswert, wie die beiden ihr Alter gestalten, voller Optimismus und Zukunftsfreude. Beide sind erst seit wenigen Jahren verwitwet — sie waren 50 beziehungsweise 46 Jahre verheiratet — und haben sich nach dem Verlust ihrer Partner — alle vier waren befreundet — als Paar gefunden. Sie sind nicht verheiratet, wohnen nicht zusammen und legen darauf auch großen Wert. Auf diese Weise alt zu werden, ist schon ein Ansporn...
Ein anderes beeindruckendes Paar sind Elena und Manuel aus Katalonien. Beide sind um die 60, er war Geschäftsführer einer Fabrik und ging in Frühpension, um möglichst viele auch seiner noch „guten“ Jahre seiner Frau zu widmen. Und das erste, was sie gemeinsam unternehmen, ist die Pilgerfahrt nach Santiago, ein langgehegter Traum der beiden. Fast kommen sie mir wie ein Paar auf Flitterwochen vor, so fein ist ihr Umgang miteinander.
Manuel sagt, er wolle nicht mehr länger an dieser Kultur der Zerstörung mitwirken. Seine ehemalige Firma wurde von einer internationalen Finanzgruppe gekauft. Heute wurden entlassen, und das war für ihn der letzte Anstoß zum Ausstieg.
Endlich habe ich Gewißheit über die rätselhafte Erkrankung von Ajiz. Es ist eine Piroplasmose, eine von Zecken übertragene Viruskrankheit. Der Virus greift die Nieren an, befallene Hunde können daran sterben. Ich bin sehr erleichtert, obwohl dadurch klar wird, daß der Jakobsweg für Ajiz zu Ende ist. Er ist über den Berg, schon auf dem Weg der Besserung, vor allem aber befreit mich die Diagnose von dem schlechten Gewissen, das mich eine Woche lang geplagt hat: Ich bin nicht schuld! Ich habe ihn nicht überanstrengt! Er benötigt noch mindestens zwei Wochen absoluter Ruhe. Das bedeutet, ich gehe ohne ihn weiter oder breche ebenfalls ab. Denn noch zwei Wochen hier in Puente herumzuhängen, halte ich nicht aus.
6. Kapitel
Es geht weiter! Aber wie weit noch?
Samstag, 1. April Puente la Reina — Estella
„On the road. again“
Heute früh sind Peggy und Miguel, meine zwei Freunde aus dem Baskenland, gekommen. Ursprünglich wollten sie Ajiz und mich übers Wochenende auf dem Pilgerweg begleiten, doch die Piroplasmose erzwingt eine Programmänderung. Einer von
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