Nach Santiago - wohin sonst
unterwegs! Aber trotzdem ist jeder Tag eine neue Herausforderung. Das Aufstehen in der Früh fällt mir immer wieder schwer. Und ehrlich gesagt: ich denke schon auch immer wieder ans Ankommen, ich freu’ mich richtig darauf. Seit gestern zähle ich rückwärts, das heißt im Geist gehe ich, in Jaca beginnend, immer eine Tagesetappe zurück, Richtung Arles. Bin gespannt, wo ich in Santiago sein werde. Es ist beinahe wie der Adventkalender für ein Kind. Jeden Tag wird ein Fenster geöffnet, und es freut sich irrsinnig auf Weihnachten.
Ajiz macht mir einen ziemlich müden Eindruck, die Satteltaschen scheinen ihm mehr und mehr auf die Nerven zu gehen. Wenn ich sie ihm abnehme, besonders zur Mittagspause, wälzt er sich wie verrückt im Gras und grunzt vor Behagen. Er ist ein ganz braver und tapferer Hund, eigentlich ist er zu bewundern. Er hat schon eine richtige „Wegintelligenz“ entwickelt, die sich beim Ausweichen von Hindernissen wie Regenpfützen, Dornenhecken, Stacheldraht zeigt, aber vor allem, wenn er vor Weggabelungen stehenbleibt und auf mich wartet, um zu sehen, welcher Weg der richtige ist.
Freitag, 24. März Sangüesa — Monreal
Erinnerungen an Frankreich
Der Tag beginnt wunderschön. Nach dem Frühstück mit den Brasilianern breche ich gleich auf, Ajiz hat sich etwas erholt, die Sonne scheint, die Stimmung ist gut. Der Weg aus der Stadt führt mich an der romanischen Kirche Santa María la Real mit dem gotischen Gnadenbild der Jungfrau von Rocamadour vorbei. Ob die berühmte Darstellung von Siegfrieds Kampf gegen den Drachen auf dem Südportal von einem deutschen Pilger angeregt wurde? Die Kirche ist jedenfalls eine der vielen Perlen der romanischen Baukunst auf der Perlenkette, die Jakobsweg heißt...
Aber gleich am Stadtausgang begrüßt mich ein Schild: „Umleitung des Pilgerweges“, ohne Angabe von Gründen! Und das ist auch der Auftakt für einen schwierigen, schlechten,... einen Scheißtag!
Zwar führt die Umleitung durch eine wildromantische Schlucht, aber im Gegenzug bringt sie mir etliche Kilometer Asphalttippelei und — damit ich Frankreich ja nicht vergesse — ein ansehnliches Stück Weges querfeldein, ungenügend markiert, mit Stacheldraht und allem, was sonst noch zu einem „anständigen“ Pilgerweg gehört. Wenig später stellt sich auch heraus, daß es eine echte Umleitung, im Sinne eines Umweges, ist: zwei Stunden mehr, schätze ich.
Ajiz zeigt größten Widerwillen, nach der Mittagspause aufzubrechen. Es wird Zeit, daß wir nach Puente la Reina kommen, wo der nächste Ruhetag fällig ist!
Am Nachmittag kommen wir zügig voran, wir sind wieder in den „richtigen“ Jakobsweg eingemündet. Schon relativ früh — trotz Umleitung! — kommen wir in Monreal an, wo es laut Informationsblatt (das ich zusammen mit dem Pilgerpaß in Canfranc bekommen habe) eine einfache Pilgerherberge geben soll. Es ist die verfallene alte Schule des Dorfes, die als Refugio dient. Es ist so ein entsetzliches Loch, daß es nicht einmal abgesperrt ist. Meine Frage nach dem Schlüssel hat bei den Einheimischen nur ein vielsagendes Lächeln hervorgerufen. Es ist fürchterlich verschmutzt, besteht aus zwei Räumen voller Gerümpel und Abfall (von Landstreichern und/oder Pilgern zurückgelassen?), zwei vor Dreck starrenden Matratzen. Von der Decke baumeln die nackten und leeren Fassungen für Glühbirnen. Wenigstens gibt es ein Klo und ein Waschbecken, und vom Bürgermeister bekomme ich gnädigerweise eine Glühbirne fürs Klo geliehen. Ich bin anscheinend der erste Pilger seit Monaten, der die Herausforderung einer Nacht in diesem Dreckloch annimmt. Aber was sollte ich sonst machen? Die nächste Herberge ist erst in Puente la Reina, und bis dorthin sind es noch mindestens fünf Stunden Fußmarsch. Ich kann zwar nicht sagen, daß ich schon Schlimmeres erlebt habe — es ist eindeutig der Tiefpunkt meiner bisherigen Erfahrungen bezüglich Unterkünften — aber ich weiß, daß es noch schlimmer kommen könnte. (Es kann übrigens immer noch schlimmer kommen.) Ich habe meinen Schlafsack, Kochgeschirr und Gaskocher, bin also nicht auf den Abfall angewiesen, der mir hier zur Verfügung steht. Ich befreie notdürftig einen Schlaf- und Eßplatz vom größten Dreck, esse, füttere Ajiz und richte gleich alles für den Aufbruch im Morgengrauen. Dann lege ich mich für eine kurze Nacht hin. Nur Ajiz macht mir Sorgen. Sobald ich ihn von der Leine lasse, bleibt er weit hinten oder bleibt überhaupt stehen. Hat
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