Nach uns die Kernschmelze
Betroffenen schon allein durch ihr Auftreten, dass sie recht hat, denn auch von der Unterlassung der umstrittenen Maßnahmen wird jemand betroffen sein. Die Forderung, alle Betroffenen müssten zustimmen, um eine Handlung moralisch erlaubt zu machen, würde jedem ein Vetorecht einräumen und den totalen Immobilismus herbeiführen. Dieser aber wäre wiederum für die meisten unzumutbar.
Also ist weder der Handelnde der letzte Richter über die Zumutbarkeit noch der Betroffene.
Was also folgt aus der Unmöglichkeit, den Handelnden oder den Betroffenen allein zum Richter über die Zumutbarkeit zu machen? Es folgt die Notwendigkeit einer fairen öffentlichen Diskussion über Rang und Dringlichkeit der auf dem Spiel stehenden Güter, Werte und Interessen sowie über Größe und Wahrscheinlichkeit der Risiken für diese Güter, Werte und Interessen. Obwohl am Ende einer solchen Diskussion eine Entscheidung stehen muss, so muss doch die Grundlage füreine solche Entscheidung dadurch erarbeitet werden, dass die relevanten Gesichtspunkte nach ihrem ganzen Gewicht von denen, die sie jeweils vertreten, zur Geltung gebracht und gegeneinander abgewogen wurden. Natürlich gibt es in einer solchen Diskussion Parteien mit gewissen vorgefassten Meinungen. Jede Diskussion beginnt mit vorgefassten Meinungen. Das ist nicht diskriminierend. Die relevanten Gesichtspunkte können überhaupt nur dann zur Geltung kommen, wenn einzelne Individuen und Gruppen sich in gewissem Maße parteiisch verhalten, d.h., wenn sie ihre Zeit, Energie und Phantasie auf die Ausarbeitung bestimmter Lösungen eines Problems richten und dabei diese Lösungen allmählich für die besten oder allein vertretbaren halten. Auch in der Wissenschaft geht es ja nicht so zu, dass Wissenschaftler völlig neutral auf die Widerlegung ihrer Theorien warten, wie das eine bestimmte Wissenschaftstheorie glaubt. Die Wissenschaftler verteidigen ihre Theorien, sie stützen sie unter Umständen durch gewagte Zusatzannahmen, spüren die Schwächen der gegnerischen Theorie auf. Das alles ist an sich nicht unmoralisch, es dient letzten Endes der Wahrheitsfindung. Das Unmoralische beginnt dort, wo jemand versucht, die gegnerische Theorie in ihren Chancen des Bekanntwerdens zu behindern, die Chance ihrer vollen Diskussion durch wissenschaftsexterne Begünstigungen und Benachteiligungen einzuschränken.
Die Moral in der Energiepolitik
Hier bin ich nun bei einigen Schlussfolgerungen, die mir für die gegenwärtige Behandlung des Problems der Energieversorgung unter einem ethischen Aspekt wichtig zu sein scheinen. Es stehen sich hier im wesentlichen zwei Parteien gegenüber: Die einen behaupten erstens, die Welt im Ganzen und die Industrieländer im Besonderen könnten in den nächsten Jahrzehnten nur menschenwürdig überleben, wenn das Aufkommen an Primärenergie gesteigert werde. Sie behaupten zweitens, dass der erforderliche Energiebedarf trotz aller Sparmaßnahmen und aller zu entwickelnden sogenannten mittleren Techniken nur gedeckt werden könne mit Hilfe von zentralen Großanlagen, die auf der Nutzung der Kernenergie beruhen. Die andere Partei bestreitet dies und glaubt umgekehrt, dass dieser Weg eine menschenwürdige Zukunft gerade behindere. Die Zweiteilung ist übrigens nicht vollständig. Auf der Seite der Befürworter der Kernenergienutzung gibt es Differenzen hinsichtlich der Risikobeurteilung der Brüter. Es gibt die Gruppe derer, die die Hochtemperaturreaktoren begünstigen, da sie weniger umweltbelastend sind und im Übrigen auch militärisch kaum nutzbar. Das Letztere bringt sie möglicherweise in einen Exportnachteil, den die Befürworter jedoch offensichtlich in Kauf zu nehmen bereit sind – aus Gründen, die vielleicht moralisch genannt werden können.
Die entscheidende Diskussion findet jedoch immer noch um die großen Alternativen statt. Und da ist nun,wie mir scheint, ein ethisches Defizit heute offenkundig. Wenn hier wirklich »das christliche Gewissen vor einer Lebensfrage« steht, d.h., wenn es sich um eine Frage handelt, die nicht bereits konsensuell beantwortet ist, sondern die noch eine Frage ist, dann müssen Christen daran erkennbar sein, ob sie die Diskussion anders als andere zu führen bereit sind, nämlich indem sie den Argumenten der jeweiligen Gegenseite faire Chancen einräumen und darüber hinaus bereit sind, bisher gewonnene Ansichten zugunsten besserer Argumente zur Disposition zu stellen. Es gibt hier viele psychologische Barrieren. Aber
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