Nach zwei Tagen Regen folgt Montag
Tangshan eine halbe Million Menschen ums Leben. Es hatte keine Warnung gegeben. Die Stimmung unter den Forschern änderte sich merklich: Wissenschaftler forderten nun, keine Vorhersagen mehr zu veröffentlichen. Der Seismologe Charles Richter – der Erfinder der berühmten Erdbebenskala – bekannte: »Ich habe einen Horror vor Prognosen.« Doch es war zu spät, den Trend zu stoppen. In Peru warnte ein Geologe vor einem vernichtenden Schlag in der Hauptstadt Lima um den 28. Juni 1981 herum. Um zu demonstrieren, dass keine Gefahr bestand, reisten Seismologen aus den USA eigens nach Lima. Beim Abendessen in der US -Botschaft wunderten sie sich allerdings, dass der Botschafter und seine Frau die Thunfisch-Schnitten selbst schmierten und servierten. Das Küchenpersonal war mitsamt Familien aus Lima geflohen. Das Beben blieb aus.
In den folgenden Jahren halfen Satelliten, eine Vielzahl von Signalen zu entdecken, die Erdbeben vorausgegangen waren. Ein ominöses Leuchten der Luft etwa, die Dehnung der Erdkruste, Gasemissionen, die elektrische Spannung des Untergrunds oder Veränderungen des Grundwasserspiegels. Doch selbst grobe Prognosen misslangen: Für das kalifornische Dorf Parkfield wurde ein Erdbeben 1988 und 1992 vorhergesagt – es ereignete sich 2004. Die frustrierten Seismologen setzten nun vermehrt auf Statistik, sie vermuteten: Die Verteilung schwacher Beben könnte Starkbeben ankündigen. Doch eines der heftigsten Beben der vergangenen Jahre in den USA ereignete sich 1994 in einer Region, die als weniger gefährdet galt. Ob das Beben denn vorhergesagt worden sei, wurde eine Seismologin der US -Geologiebehörde gefragt. »Noch nicht«, antwortete sie lakonisch.
1997 erklärte der Geophysiker Robert Geller von der Universität Tokio die Debatte für gestorben: Präzise Vorhersagen seien prinzipiell unmöglich. Der Zufall bestimme, wie viel Gestein sich in Bewegung setzt. Die Kontroverse vergiftete die Stimmung unter den Forschern; jeder Vorstoß einer neuen Theorie wurde sogleich abgekanzelt. Doch weiterhin starteten viele junge Seismologen ihre Karriere mit großen Hoffnungen. Denn die Frage der Bebenvorwarnung gilt weiterhin als eine der bedeutendsten der Geoforschung.
Angesichts der großen Gefahr durch die Naturgewalt hat die US-Regierung dem Fachgebiet einen teuren neuen Anlauf genehmigt: In Parkfield, auf halber Strecke zwischen Los Angeles und San Francisco, stößt derzeit ein Bohrer in einen Erdbebenherd der San-Andreas-Erdspalte vor. Auch vor der Küste Japans fressen sich von einem neuen Forschungsschiff aus Bohrer in die Nahtzone zweier Erdplatten. In unterirdischen Langzeitlabors hoffen die Seismologen, doch noch Warnsignale für Erdbeben zu entdecken.
Derweil machen vor allem Amateure mit Bebenprognosen von sich reden. Nach nahezu jedem großen Beben berichten sie von Tieren, die vor dem Ereignis unruhig geworden seien. Von jenen Tieren, die nichts gemerkt haben, wird freilich nicht erzählt. »Die Erwähnung von Tieren macht mich zum Tier!«, schimpft der renommierte Seismologe Max Wyss von der ETH Zürich. Das sei schlicht Nonsens. Auf forsche Theorien reagieren Seismologen wohl empfindlich – die Mahnung des Grubenhundes von 1911 bleibt unvergessen.
So bleibt die Erdbebenwarnung von Haicheng der einzige Erfolg. Doch die Frage bleibt: Warum konnten 1975 in China Zehntausende rechtzeitig vor einem Beben in Sicherheit gebracht werden? Im nächsten Kapitel lüften Geoforscher das Geheimnis – sie erhielten erstmals Einblick in Dokumente, die lange in chinesischen Staatsarchiven verschlossen waren.
21 Das Wunder von Haicheng
Am 4. Februar 1975 um 19 Uhr 36 erschütterte ein starkes Erdbeben den Norden Chinas. Das Beben der Stärke 7,3 gilt noch heute als eines der größten Mysterien der Wissenschaft – denn es wurde auf den Tag genau vorhergesagt. Stolz verkündete die chinesische Regierung von Staatschef Mao Tse-tung nach dem Beben, dass die meisten Einwohner der Großstadt Haicheng rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Nur 1328 Menschen seien gestorben, obwohl Millionen von dem Beben betroffen waren. Der Alarm hätte wesentlich auf Messungen von Privatleuten gefußt, berichtete die Regierung damals. Eine exakte Erdbebenwarnung ist sonst noch nie gelungen, und viele Experten halten sie für prinzipiell unmöglich.
Die genauen Umstände des Haicheng-Bebens blieben lange im Dunkeln, die Veröffentlichung der entsprechenden Dokumente war verboten. Ausländische Wissenschaftler,
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