Nach zwei Tagen Regen folgt Montag
die die Region ein Jahr später besuchten, konnten nur bestätigten, dass es Warnung und Räumung gegeben hatte. Jetzt haben unabhängige Experten aus Kanada und China endlich die Akten eingesehen und mit Zeugen gesprochen. Die Studie der Gruppe um Kelin Wang vom Kanadischen Geologischen Dienst lüftete das Geheimnis – sie bietet Stoff für einen Krimi.
»Wir sind im Krieg«, rief General Li Boqui. Zum Feind hatte der ranghohe Politiker der nordchinesischen Provinz Liaoning den heimischen Erdboden erklärt. Chinesische Wissenschaftler des Staatlichen Seismologischen Büros ( SSB ) hatten Monate zuvor – im Juni 1974 – davor gewarnt, dass in den nächsten eineinhalb Jahren in der Region um die Großstädte Haicheng und Anshan vernichtende Erdstöße drohten. Anlass ihrer Besorgnis waren einige schwache Beben, die es in der Gegend in den Jahren zuvor gegeben hatte. Zudem wölbte sich die Erde örtlich auf, der Grundwasserspiegel und der elektrische Widerstand des Bodens veränderten sich – nach Ansicht der Forscher weitere Warnzeichen.
Als dann ein deutlich spürbarer Erdruck am 22. Dezember 1974 die Bewohner der Provinz Liaoning erschreckte, drängte General Li Boqui die Wissenschaftler zu genaueren Prognosen. In den nächsten drei Wochen stiftete dreimaliger Fehlalarm Unruhe. Menschen gingen aus Angst nicht zur Arbeit, immer neue Notfallpläne wurden verbreitet, Evakuierungen geübt. Die Provinzregierung verlor das Vertrauen in die Prognosen und bestellte einige Forscher des SSB für den 10. Januar 1975 ein. Zwei Tage später verkündete die Regierung, ein Beben sei nicht zu befürchten.
Der Seismologe Gu Haoding fehlte bei der Aussprache mit den Politikern. Sein Chef hatte ihn dazu verdonnert, einen Vortrag für eine Forschertagung vorzubereiten, die vom 13. bis 21. Januar in Peking stattfinden sollte. Gu warnte in seinem Referat, ein schweres Beben werde die Provinz Liaoning »in der ersten Hälfte des Jahres oder bereits im Januar oder Februar« heimsuchen. Das Beben könne »noch vor dem Ende der Konferenz« auftreten.
Gu sollte mit seiner Erdbebenprognose recht behalten. Seine Warnungen fußten im Wesentlichen auf der Verformung des Bodens entlang der Nahtzone zweier Erdschollen, die der Seismologe millimetergenau verfolgte. Ende Januar begann sich der Boden zunächst wieder zu senken. Auch andere Indizien deuteten auf verminderte Erdbebengefahr hin, etwa der abfallende Grundwasserspiegel. Nur wer wie Gu und sein Chef Zhu Fengming genau aufpasste, konnte spüren, wie sich das Unheil leise ankündigte: Einige kaum merkliche Schwingungen des Bodens ließen die Großstadt Haicheng am 1. und 2. Februar schwach vibrieren.
Zhu hatte am 31. Januar die Provinzregierung gewarnt, eine zunehmende Zahl schwacher Beben könnte einen vernichtenden Stoß ankündigen – wie der Trommelwirbel einen Paukenschlag. In der Nacht vom 3. auf den 4. Februar nahmen die Vibrationen des Bodens zu und wurden heftiger. Die Seismologen vom SSB eilten in ihr Institut, um sich zu beraten. Kurz nach Mitternacht legte Zhu der Provinzregierung eine erstaunlich präzise Warnung vor. »Ein Starkbeben wird sehr wahrscheinlich folgen«, schrieben die Forscher. Am Mittag des 4. Februar versammelten sich hochrangige Politiker der Provinz Liaoning und einige Forscher des SBB in einem Hotel in Haicheng zu einem Krisengespräch. Sie ahnten nicht, dass das Gebäude wenige Stunden später zur tödlichen Falle werden sollte. Doch allmählich wurden sie nervös. Denn alle paar Minuten klapperten die Tassen auf den Tischen des Konferenztisches, und die Getränke kräuselten sich: Es war offensichtlich, dass der Boden nicht zur Ruhe kam.
Die anwesenden Forscher warnten die Politiker eindringlich. Derweil krachten in der Umgebung die ersten Schornsteine auf die Straßen. Die Beben wurden stärker. Die Seismologen der Erdbebenstation in der nahe gelegenen Stadt Shipengyu wollten nicht so lange warten, bis sich die Provinzregierung zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. Obgleich dazu nicht befugt, hatten die Forscher die Verwaltungen umliegender Städte und Gemeinden informiert: »Bereiten Sie sich auf ein mögliches starkes Erdbeben heute Nacht vor.« Nicht nur die stärker werdenden Stöße veranlassten die Seismologen zu dieser Warnung, sondern auch das plötzliche Ausbleiben der Beben seit dem frühen Nachmittag. Sie deuteten die Ruhe als Zeichen, dass sich Spannung für einen großen Ruck aufbaute. Die Seismologen von Shipengyu überredeten
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