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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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über irgend jemanden sonst, am wenigsten über das, was wir »die Zeit« nennen, womit nicht viel gesagt ist. Sie hat nicht versucht, sich davonzumachen, womit gerade in jenen Jahren so mancher begonnen hat. Wenn sie ihren Namen aufrufen hörte: »Christa T.«, dann stand sie auf und ging hin und tat, was von ihr erwartet wurde, aber wem soll sie sagen, daß sie lange dem Namensruf nachlauschen muß: Bin wirklich ich gemeint? Oder sollte es nur mein Name sein, der gebraucht wird? Zu anderen Namen gezählt, emsig addiert vor dem Gleichheitszeichen? Und ich könnte ebensogut abwesend sein, keiner würde es bemerken? Sie sah auch, wie mancher anfing, zu entschlüpfen, die bloße Hülle, den Namen zurückzulassen. Das hat sie nicht gekonnt.
    Aber auch die Fähigkeit, in einem Rausch zu leben, ist ihr abgegangen. Die heftigen, sich überschlagenden Worte, die geschwungenen Fahnen, die überlauten Lieder, die hoch über unseren Köpfen im Takt klatschenden Hände. Sie hat gefühlt, wie die Worte sich zu verwandeln beginnen, wenn nicht mehr guter Glaube und Ungeschickund Übereifer sie hervorschleudern, sondern Berechnung, Schläue, Anpassungstrieb. Unsere Worte, nicht einmal falsch – wie leicht wäre es sonst! –, nur der sie ausspricht, ist ein anderer. Verändert das alles? Christa T., sehr früh, wenn man es heute bedenkt, fing an, sich zu fragen, was denn das heißt: Veränderung. Die neuen Worte? Das neue Haus? Maschinen, größere Felder? Der neue Mensch, hörte sie sagen und begann, in sich hineinzublicken.
    Denn die Menschen waren nicht leicht zu sehen hinter den überlebensgroßen Papptafeln, die sie trugen, und an die wir uns, was sehr merkwürdig ist, schließlich sogar gewöhnten. Für die wir dann zu streiten anfingen: Wer würde heute noch an sie erinnern, wenn sie wirklich ganz und gar draußen geblieben und nicht auf vielen Wegen in uns eingedrungen wären? So daß nicht mehr sie uns mißtrauten, sie und die schrecklich strahlenden Helden der Zeitungen, Filme und Bücher, sondern wir uns selber: Wir hatten den Maßstab angenommen und – beklommen, erschrocken – begonnen, uns mit jenen zu vergleichen. Es war dafür gesorgt, daß der Vergleich zu unseren Ungunsten ausfiel. So entstand um uns herum, oder auch in uns, was dasselbe war, ein hermetischer Raum, der seine Gesetze aus sich selber zog, dessen Sterne und Sonnen scheinbar mühelos um eine Mitte kreisten, die keinen Gesetzen und keiner Veränderung und am wenigsten dem Zweifel unterworfen war. Der Mechanismus, nach dem sich das alles bewegte – aber bewegte es sich denn? –, die Zahnräder, Schnüre und Stangen waren ins Dunkel getaucht, man erfreute sich an der absoluten Perfektion und Zweckmäßigkeit des Apparats, den reibungslos in Gang zu haltenkein Opfer zu groß schien – selbst nicht das: sich auslöschen. Schräubchen sein. Und erst heute kommt das rechte Erstaunen darüber bei uns an: So weit ist der Weg der Gefühle.
    Welche Idee: Sie, Christa T., hätte diesem Mechanismus ihr Kind am Abend entgegengesetzt! So direkt darf man sich Wirkung und Gegenwirkung nicht vorstellen. Sie hat, übrigens, unter keine ihrer Arbeiten ein Datum geschrieben. Aber alles, die Schreibart der Manuskripte, die Beschaffenheit und das Alter des Papiers, deutet darauf hin, daß die Skizzen über ihre Kindheit eben aus jener Zeit stammen. Schwer zu sagen, ob sie das ernst nahm, ob sie den Ernst vor sich verbarg. Ganz sicher aber hat sie nicht gewußt, warum sie gerade jetzt dem Kind in sich selbst nachgehen mußte. Wie aber innerlich beteiligtes Schreiben immer auch mit Selbstbehauptung und Selbstentdeckung zu tun hat; wie jeder nicht nur die Leiden, sondern auch die Ermutigungen hat, die zu ihm passen, so hat sie, abends in ihrem Zimmer, unter den vielen Schildern, keineswegs im reinen mit sich, doch die Genugtuung gehabt, das Kind am Abend wieder aufstehen zu sehen: ängstlich, an die Latten der Gartenpforte geklammert, den Auszug der Zigeunerfamilie beobachtend. Schmerz empfinden, Sehnsucht, etwas wie eine zweite Geburt. Und am Ende »ich« sagen: Ich bin anders.
    Manche, die sie damals kannten, haben sie wirklichkeitsfremd genannt. Wahr ist: Sie kam mit ihrem Geld nicht zurecht. Sie rauchte, kaufte sich teure Seife und konnte sich ohne Sinn und Verstand in eine der neuen HO-Gaststätten setzen und für zehn Mark Bratkartoffeln mit Sülze essen, dabei schnaufte sie vor Behagen.Dann trank sie, wenn sie ganz verrückt wurde, auch noch Wein, und in ihrer

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