Nachdenken ueber Christa T.
ihrem Leben gespielt hat: Sie hat es in Frage gestellt. Und die blasse, schüchterne Gertrud Born hat das drei Jahre lang ausgehalten, sie hat es, wenn ich es recht bedenke, gesucht. Hier werde ichanfangen, Achtung vor ihr zu kriegen. Werde sie allerdings auch, auf Kosten der Wahrheit, beschwichtigen müssen.
Nun, werde ich sagen, sie hat eben zu viele Interessen gehabt; die weise Selbstbeschränkung hat ihr gefehlt, sie selbst hat es sich oft genug vorgeworfen.
Verrückt, werde ich denken, schon fängt man an, Christa T. zu verschleiern, die Tote zu opfern zugunsten der Lebenden, die die ganze Wahrheit nicht brauchen kann. – Aber da habe ich mich wieder geirrt in Gertrud Born.
Ach nein, wird sie sagen, eigentümlich einfach. Sie hat nur ein Interesse gehabt: Menschen. Das falsche Fach hat sie vielleicht studiert – Literatur, was sollte ihr das? Aber was wäre das richtige Fach gewesen?
Wider Erwarten soll man mit Gertrud Dölling darüber nachdenken können?
Übrigens, sagt sie da wahrscheinlich: Außer mir hat sie damals niemanden gehabt.
Nein, widersprechen werde ich nicht, aber es doch auch nicht ganz auf sich beruhen lassen. Kostja, werde ich sagen. Vergiß nicht Kostja.
Da wird sie natürlich den Kopf schütteln. Die Beharrlichkeit, die sie immer hatte, ist in Eigensinn übergegangen.
Niemanden, wird sie sagen, außer mir. Kostja! Kann man dieses Umeinanderherumgehen ernst nehmen?
Ich, im Besitz der Tagebücher von Christa T., werde in Schweigen verfallen. Also hat sie wirklich niemanden gehabt, also ist mein Rechtfertigungsversuch – denn warum sonst wäre ich zu Gertrud Dölling gegangen? – gescheitert. Warum sollte ich ihr weiter zuhören?
Du denkst wie sie, wird Gertrud Dölling sagen: Alles käme darauf an, wie man eine Sache ansieht, ihr Verhältnis zu Kostja, zum Beispiel. Aber darauf eben kommt es nicht an, niemals. Das war auch so ein Zug an ihr: sich über die objektiven Tatsachen hinwegsetzen. Und danach der große Katzenjammer, daß man reden und reden konnte ...
Katzenjammer? werde ich vorsichtig fragen.
Mehr als einmal. Dieses Meer von Traurigkeit! Bloß weil die Leute nicht so sein wollten, wie sie sie sah.
Oder, werde ich zu bedenken geben, weil sie nicht so sein konnte, wie wir sie haben wollten?
Gertrud Dölling hat sehr wohl verstanden, aber über diese Anfechtungen ist sie hinaus. Wollten? wird sie heftig erwidern. Wollten? Hat es uns denn freigestanden? Waren wir nicht gezwungen, das Nächstliegende zu tun, so gut wie möglich, und es zu verlangen, immer wieder? Ist nicht Erstaunliches daraus geworden? Oder könnte es uns heute besser gehen?
Aber das war ja nicht die Frage. Wohin geraten wir, werde ich denken, und sie, Gertrud Dölling, werde ich schonend fragen: Was wirfst du ihr vor?
Wem? wird sie verwirrt sagen. Ach so. Ihr. Du mußt mich falsch verstanden haben. Vorwerfen? Vergiß nicht, wir waren befreundet, wirklich befreundet. Sie hat sich immer auf mich verlassen können.
Und das ist wahr. Wenn Christa T. unruhig wurde, wenn sie umherzustreunen begann, wenn sie verschwand und irgendwann wieder auftauchte, fremd, als wäre sie lange weggewesen – immer konnte sie sicher sein, daß Gertrud Born an ihrem Platz geblieben war und sie erwartete, unwandelbar in Treue und Liebe, daß keine Fragengestellt würden und keine Erklärungen verlangt, daß sie aber auch ohne Erklärung verstanden wurde.
Was bleibt mir übrig, als aufzustehn und mich still davonzumachen?
Was ich ihr vorwerfe? sagt Gertrud Dölling da, vom Fenster her, und ihre Stimme hat sich verändert. Daß sie tatsächlich gestorben ist. Immer hat sie alles wie zum Spaß gemacht, versuchsweise. Immer konnte sie mit allem wieder aufhören und ganz was anderes anfangen, wer kann das schon? Und dann legt sie sich hin und stirbt in vollem Ernst und kann damit nicht mehr aufhören. – Oder denkst du, daß sie an dieser Krankheit gestorben ist?
Nein.
Ich werde nicht zu ihr gehen, ich werde Gertrud Dölling nicht besuchen. Das Gespräch wird nicht stattfinden, diese Gemütsbewegungen werden wir uns ersparen. Und die Frage, woran Christa T. gestorben ist, werde ich selbst stellen, zu ihrer Zeit, ohne in Zweifel zu ziehen, daß es die Krankheit war, Leukämie, mit der sie nicht fertig werden konnte.
Ich werde zu Hause bleiben. Warum soll ich Gertrud Dölling traurig machen? Sie ist, wie sie sein kann. Wer kann wie sie von sich sagen, daß er bis an seine Grenzen geht? Und gewisse Fragen, die ich ihr stellen
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