Nachdenken ueber Christa T.
braucht die Welt zu ihrer Vollkommenheit?
Das und nichts anderes war ihre Frage, die sie in sich verschloß, tiefer noch aber die anmaßende Hoffnung, sie, sie selbst, Christa T., wie sie war, könnte der Welt zu ihrer Vollkommenheit nötig sein. Nichts Geringeres hat sie zum Leben gebraucht, der Anspruch ist allerdings gewagt und die Gefahr, sich zu überanstrengen, groß. Nicht umsonst hat die Schwester sie gewarnt, die auf ihrem Dorf ihrer Schule treu geblieben und sogar im Begriff ist, sich vernünftig zu verheiraten. Christa T., in den Briefen, die sie ihr schreibt, schwankt zwischenneidvoller Bewunderung: Sie ist doch tüchtig, die Schwester, sie packt das Leben an, sie überläßt sich nicht unfruchtbaren Grübeleien – und dem Vorwurf, die Schwester gebe sich zu früh zufrieden, bescheide sich, hole nicht alles aus sich heraus. Aber was tu ich denn! endet ein solcher Brief. Wird auch nicht jeder abgeschickt.
Sie ging in die Vorlesungen, saß auf ihrem Platz im Lesesaal, folgte mit den Augen den Reihen der Bücherrücken und fürchtete auf einmal, hier könnte schon auf jede Frage eine Antwort stehen. Da sprang sie auf, lief hinaus, fuhr mit der Straßenbahn den weiten Weg zur Stadt zurück, schon wieder war Nebel, sie fror. Gestern bin ich , schreibt sie der Schwester, abends durch die Altstadt nach Hause gegangen. War plötzlich rasend abgespannt, landete in einer feuchten Spelunke, die Damen und Herren glotzten mich an. Ein durchreisender Plantagenbesitzer aus dem Magdeburgischen hat sich von seiner professionellen Begleiterin freigemacht und ist zu mir gekommen. Gerne hätte er sich mit mir einen vergnügten Abend in Auerbachs Keller gemacht. Wir politisierten, nicht zu seinem größten Vergnügen, tranken und rauchten tüchtig auf seine Kosten, schließlich ließ ich ihn sitzen und flitzte weg. Ich rauche zu stark, bin oft zerschlagen und traurig ...
Ein erstes Anzeichen, vereinzelt, nicht beachtet, ihr selbst nicht erklärbar. Ab Trümoh, sagt sie sich, schmeiß die Pantoffeln! Dann war sie auch wieder ganz obenauf, weil sie, so lächerlich das klingt, ihren Inder getroffen hatte: Klingsor – anders konnte er nicht heißen – mit seinem glutvollen Blick, dem schneeweißen Turban und den leider durchlöcherten Socken, das soll sie nichtrühren! Niemand wird sich um ihn kümmern, hat sie sich gesagt und ist in seiner Nähe geblieben, auf der Buchmesse, solange es ging, ohne aufzufallen. Und auch dann noch, warum bloß nicht? Denn er hat sie natürlich schon bemerkt, ist stehengeblieben, hat ausprobiert, wohin sie ihm folgte. Und hat, du wirst es nicht glauben, mir zugenickt, als wir uns endlich doch trennen mußten.
In der Nacht habe ich dann von ihm geträumt. Auf der Technischen Messe, träumte ich, wohin ich sonst nicht gegangen bin, habe ich ihn wiedergetroffen, er hat mich an der Hand genommen und zu den Werkzeugmaschinen geführt: Komm, mein Kind, ein Dichter muß sich auch um die Nachbardisziplinen kümmern ... Ich bin am nächsten Tag natürlich zur Technischen Messe gegangen. Dort hab ich ihn, bei den Werkzeugmaschinen, getroffen. Er hat sich so wenig gewundert wie ich und mir eine echt Klingsorsche Verbeugung gemacht.
Nein, gewundert hab ich mich nicht. Gefühl und Traum hatten nicht getrogen.
Sie hat nicht gemerkt oder nicht zugegeben, wozu der ganze Traum gemacht war. Denn nur in dieser romantischen Verkleidung, unter so viel umständlichen Vorkehrungen war dem Wort gestattet hervorzutreten. Dichter hat jemand sie genannt, und sie ist leicht darüber hinweggegangen. Aber was sie gehört hat, hat sie gehört.
Es hat keinen Sinn, sich zu entrüsten, daß sie mit uns allen Versteck gespielt hat: Mit sich selber hielt sie es nicht anders. Wie ich alle ihre Ausflüchte jetzt durchschaue! Wie ich ihr ihre Versuche, sich zu entziehen, jetzt durchkreuzen würde! Da hat sie sich endgültig entzogen.Das war die Krankheit, die Krankheit war es, Gertrud.
Merkwürdig oder nicht – in jenen Jahren hat sie zu schreiben begonnen. Wieso merkwürdig? Sollte nicht jede Zeit gleich gut oder gleich schlecht für den Versuch sein, sich in und außer sich zu suchen? Denn das war, soviel ich sehe, damals ihr Fall. Heute wird man schwer verstehen, was daran erstaunlich sein soll.
Christa T. hat, auch wenn sie lässig schien, anstrengend gelebt, das soll bezeugt sein, obwohl es hier nicht darum gehen kann, sie zu verteidigen: Kein Verfahren findet statt, kein Urteil wird gesprochen, nicht über sie noch
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