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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ist es ja, das Fräulein von Sternheim: Ihr Schicksal ist gemeint.
    Sie scherzen, sagte ich.
    Justus brachte uns beiden Sekt und blieb stehen. Ich konnte trotzdem weitersprechen.
    Verführung? Intrigen? Falsche Ehe mit diesem Schurken von Derby? Das traurige Landleben in der englischen Provinz? Und, um Gottes willen, Tugendhaftigkeit?
    Genau das, sagte Christa T. Und zum Lohn für alles Lord Seymour, das Ende vom Lied.
    Mademoiselle, sagte Justus. So sollten Sie mich doch nicht nennen.
    Das wird sich zeigen, sagte Christa T., wie man Sie zu nennen hat.
    Sie trank ihren Sekt in einem Zug und sah ihn dabei an. Sein Lächeln war zuversichtlich, aber nicht selbstsicher. Das ging, wahrhaftig, das konnte gehen.
    Ich glaubte nun deutlicher zu sehen, worauf sie hinauswollte. Sie hatte sich da ein Mittel gefunden, ihm vor Augen zu führen, was sie aufgab, wenn sie mit ihm ging. Gerade schien sie es selbst zu merken, sie erschrak noch einmal, das war ein wichtiger Augenblick. Justus aber, ob er es wußte oder nicht, tat das Richtige: Er tat, als habe er das alles längst vor ihr gewußt, als sei eben das der springende Punkt und als käme gar nicht in Frage, einen Gedanken an »aufgeben« überhaupt zuzulassen. Und das alles gab er ihr zu verstehen, ohne ein Wort zu verlieren, allein, wie er ihr zutrank, ihr das Sektglas aus der Hand nahm und sie zum Tanzen führte. Da sie, wie er sah, entschieden war, war es an ihm, ihr den letzten Schritt leicht zu machen: Es gab gar keinen letzten Schritt, das war ein Schritt von vielen.
    Sie dankte ihm die Sicherheit, die er ihr gab, und hatte Grund dazu. Er ließ sie dann tanzen, solange und mit wem sie wollte, tanzte selbst nicht, trank wenig und wartete, bis er sagen konnte: Gehen wir. – Da ließ sie ihren Tänzer stehen und ging sofort. Sie winkte mir leichthin zu und verließ uns, und wir Zurückbleibenden mochten uns fragen, warum wir immer gezweifelt hatten, daß sie auf einfache und glückliche Weise unter die Haube kommen werde.
    An jenem Abend hat sie sich selbst und uns alle zwingen wollen, ein paar Schritte, ein, zwei Jahrhunderte zurückzutreten, um uns deutlicher zu sehen. In hundert,nein, in fünfzig Jahren werden auch wir als historische Figuren auf einer Bühne stehen. Warum so lange warten? Warum, da es doch unvermeidlich ist, nicht mit ein paar Schritten selbst auf die Bühne springen, erst mal ein paar Rollen durchprobieren, ehe man sich festlegt, diese und jene als Zumutung zurückweisen, andere mit geheimem Neid schon besetzt finden – endlich aber eine annehmen, bei der alles auf die Auslegung ankommt, also von mir selbst abhängt? Die Frau eines Mannes, der Tierarzt sein wird und der weiß, daß sie ihn sich nicht nur ausgesucht, sondern eigens erschaffen hat und daß sie sich gegenseitig zwingen müssen, an den Rand ihrer Möglichkeiten zu gehen, wenn sie sich nicht wieder verlieren wollen.
    An jenem Abend nahm er sie mit zu sich nach Hause. Die Erfindung des Zimmers habe ich aufgegeben, es ist nicht wichtig. Sie brauchte nun auch keine Zeit mehr. Das Spiel hörte auf, die Rolle fiel von selber ab, er liebte sie.

14
    Jetzt heißt es, doppelt vorsichtig zu sein. Man wird das Gefühl nicht los, den Schlüssel gefunden zu haben.
    Jetzt heißt es, Argwohn zu wahren. Wie denn – dies soll es gewesen sein? Ein paar halbe Worte: »Phantastische Existenz«, »Vision« ... Und wenn es viele Türen gäbe? Und diese eine wäre nur zufällig, aufs Geratewohl getroffen?
    Andere aber wären, auch für sie, Christa T., verschlossen geblieben?
    Wir können noch einen Versuch machen. Nicht jenes Kostümfest soll es gewesen sein, das sowieso erfunden ist, sondern eine einfache Ankunft, noch dazu in einem Landstädtchen. Es hat keinen Zweck, den Namen zu nennen, sie sind ja alle gleich, nur daß in diesem einen Justus zufällig sein Praktikum ableistet. Und sie, Christa T., wird ihn also besuchen, Sonnabend mit dem Nachmittagszug. Was denkst du denn, eher kann ich nicht. Könnte auch noch ganz wegbleiben, mit Leichtigkeit, sagt sie sich, wenn sie aber nun doch im Zug sitzt – was besagt das schon? So redet Justus, er stammt von pommerschen Bauern ab, sie muß lächeln: Es besagt nichts und hat auch nichts zu besagen.
    Das Wetter könnte nicht schöner sein. Eine Familie – junger Mann, unliebenswürdige Frau und ein Junge – sind mit Sack und Pack zugestiegen, für eine lange Fahrt ausgerüstet. Der Mann läßt sich auf einen schweren Rucksack sinken und schläft sofort ein.

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