Nachdenken ueber Christa T.
Komisch, nicht?
Er hat nämlich eine Entdeckung gemacht, und es ist ihm sogar gelungen, sie in Worte zu fassen, was der schwerere Teil der Arbeit ist, nun kann er sich nicht satt hören an seiner Entdeckung: Der Kern der Gesundheit ist Anpassung. – Das wiederholt er gleich noch mal, sie solle nur nicht die Brauen heben, ob sie denn wirklich begreife, was das heißt?
Nun, Christa T. verstand allzugut, sie glaubte auch seinen entwicklungsgeschichtlichen Exkurs entbehren zu können, aber er ist nicht zu unterbrechen. Überleben, ist ihm klargeworden, sei das Ziel der Menschheit immer gewesen und werde es bleiben. Das heißt, ihr Mittel zu jeder Zeit: Anpassung. Anpassung um jeden Preis.
Ob ihm nicht auffalle, daß er dieses Wort nun wenigstens zweimal zu häufig gebraucht habe?
Aber so leicht wie früher können Sie mich jetzt nicht mehr in Verlegenheit bringen, Sie haben mich nicht mehr unter Ihrer moralischen Fuchtel, ich bin so frei zu kontern: Was könnte denn, vom ärztlichen Standpunkt, aus einer Programmierung der Jugend mit einerhochgestochenen Moral, aus dem Zusammenstoß dieser Moral mit den Realitäten des Lebens, die immer stärker sind, glauben Sie mir; was kann also aus solchem Konflikt herauskommen? Komplexe bestenfalls. Die deutschen Erzieher haben schon immer an den Realitäten rütteln wollen, immer vergebens. Anstatt daß Sie mal darangingen, die Realität zum Maßstab zu nehmen und Ihren Erfolg daran zu messen, ob es Ihnen gelungen ist, Ihren Schülern seelische Robustheit mit auf den Weg zu geben. Was Dringenderes brauchen die nicht, das steht fest.
Nun, sagt Christa T., wenn sie sich auch nicht rühmen könne, daß er seine seelische Robustheit ihr zu verdanken habe – so viel wenigstens hoffe sie doch: Er werde in seinen Berichten an die Ärztekommission »nämlich« niemals mehr mit »h« schreiben. Und in manchen Fällen, fügt sie freundlich hinzu, sei man schon mit bescheidenen Erfolgen zufrieden.
13
Da mußte ihr früherer Schüler wieder lachen.
Sie aber, Christa T., sagt am Abend zu Justus, ihrem Mann, sie sei eigentlich froh, daß sie ihn getroffen habe, diesen früheren Schüler. Sie gehen da im Innenhof des Klosters spazieren und stoßen auf den alten dicken Mönch, der aus dem Kücheneingang kommt und unter seiner Kutte etwas hervorzieht, was er im Gehen hastig verschlingt. War da ein Geräusch? Das weiße Tuch wird zusammengefaltet und verschwindet wieder unter der Kutte. Der Mönch, der zum Gottesdienst ruft, betrittden Hof, mit dem hölzernen Hammer schlägt er das Holzrohr: dong, ding ding ding. In der reichgeschnitzten, goldprunkenden Kirche, hinter der Trennwand zum Allerheiligsten, öffnet ein junger Mönch den Reliquienschrein. Die Knochen der Heiligen hinter der Glasplatte. Einer nach dem anderen unter endlosen Wechselgesängen, treten sie heran, das Glas zu küssen, Weihekerzen werden angezündet, kleine Geschenke dargebracht. Was für Gesichter unter den Mönchen! Feiste gedankenlose Grauköpfe, hagere, bleichhäutige Fanatiker, ein verschmitztes Burgundergesicht, ein guter gedankenvoller Gelehrtenkopf und mein Träumer, der Seidenhaarige, der den Schrein öffnen durfte .
Gehen wir doch in die Arkaden, spazieren wir unter den Martyrien der Heiligen, unter der Apokalypse, die uns nicht mehr betrifft. So, eines Tages, wird man unter unseren Martyrien spazieren. Der Mediziner aber, mein früherer Schüler, spaziert heute schon drin herum, und nichts davon betrifft ihn – das ist doch merkwürdig, nicht? Übrigens hat er mir mit einem Schlage klargemacht, was das eigentlich auf sich hat mit dieser »halbphantastischen Existenz des Menschen«, mit der ich damals wohl, das geb ich zu, ein bißchen im luftleeren Raum herumjongliert habe. Unsere moralische Existenz ist es, nichts anderes. Und die ist allerdings sonderbar genug. Phantastisch sogar. Mein schlaues Schülerlein hat nicht zu Ende gedacht, das hab ich ihm nicht beibringen können. Er war ein bißchen gar zu freudig erregt von seiner Entdeckung, daß er nicht verantwortlich ist für irgend etwas, was es auch sei ...
Das hohe hölzerne Kreuz auf dem Westgrat über dem Gebirgstal hebt sich schwarz vom gelben Abendhimmelab. Wir können wohl nur, sagt Christa T., in aller Ruhe damit rechnen, daß nicht verlorengehen wird, was noch so dringend gebraucht wird.
Ich weiß nicht, ob wir auf ihre Reise noch zurückkommen werden, ihre einzige, die sie so sehr genoß, weil jetzt das Kapitel über Justus kommt. Es ist
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