Nachdenken ueber Christa T.
verheiratet, das ging sehr schnell, das Kind war auch schon unterwegs, Klein-Anna. Doch vorher hatten die Schmerzen wieder angefangen, Gesichtsschmerzen, Nervenschmerzen, ein Familienübel, manchmal schwer zu ertragen. Sie war beinahe erstaunt, so, als hätte sie erwartet, daß alle Widrigkeiten jetzt von alleine zurückblieben, jetzt, wo sie zu verstehen begann, sich ihren Teil von der Welt zu nehmen und ihr ihren Teil zurückzugeben, denn so war es. Nichts, nichts lief darauf hinaus, im fünfunddreißigsten Jahr einfach abgeschnitten zu werden, aber alles, langsam und stetig sich fortzusetzen und am Ende auf seine Art dazusein. Da es aber ein Ende nicht gibt, nur diesen sinnlosen Unglücksfall, muß man wohl den Versuch machen, die Linien ihres liegengelassenen Lebens zu verlängern, mit der gebotenen Vorsicht, und in ihrer natürlichen Perspektive. Daß man sie sehen kann.
Wie ich sie sehe, egal, was sie gerade macht. Vielleicht bäckt sie einen Schweinerücken, der ist knusprig und eingekerbt, als er aus dem Ofen kommt, sie hat Spaß an dem Ding, oder sie nimmt die Kinder an die Hand, füttert sie, unterweist sie, oder sie bereitet für Justus den Tee, auf die komplizierte Weise, die er gerne hat.Ich war ja dabei, wie sie Vorhangstoffe für ihr Haus aussuchte, die Vorhänge hängen auch da, aber sie ist weg. – Doch ich lasse mich hinreißen. Ich greife vor, als könnte ihre Geschicktheit in Alltagsdingen irgend etwas beweisen oder gar rückgängig machen. Als gebe es eine Instanz, bei der man Berufung einlegen kann und die durch solche Gründe: daß sie brauchbar war, daß sie gebraucht wurde, im mindesten zu rühren wäre.
Aber sie lebt ja noch in Berlin, ein buntes halbes Jahr. Das rotbraune Notizbuch verstummt einfach, Kochrezepte und Etatpläne füllen seine letzten Seiten, ich muß lachen über das Sümmchen, das da hin- und hergeschoben wird. Sie klappt das Heft zu, sie sagt: Wir ziehen los, wenn Justus von der Straße her pfeift, dann ziehen sie los, manchmal weit weg, manchmal nach »drüben«. So gewohnt ist es nicht, daß nicht doch Herzklopfen dabei wäre. Drüben, wo die anderen, wo entgegengesetzte Entwürfe von allem – von jedermann und jeder Sache und jedem Gedanken – hergestellt werden; denn das ist der wahre Grund, wenn einem ungeheuer ist, wenn man voll unheimlicher Erwartung um die nächste Ecke biegt: Immer nur derselbe lächelnde Verkehrsschutzmann. Aber ebensogut könnte man von sich selbst überrumpelt werden. Nicht nur das Land, jeden von uns gibt es doppelt: als Möglichkeit, als Un-Möglichkeit. Manchmal löst man sich aus der Verwirrung mit Gewalt. Sie spuckt auf den Gedenkstein für die »geraubten Länder im Osten«. Grüngolden ist die Farbe der Erinnerung, sie soll nicht schwarz werden, verdorren: Schwarz ist die Farbe der Schuld. Sie spuckt auf diesen Stein.
Komm, sagt Justus, seine Hand umspannt ihren Oberarm.Sie steigen eine teppichbelegte Treppe hinauf, Christa T. dreht auf jedem Absatz an den Messingknäufen des Geländers. Am liebsten möchte sie die Stufen zählen, um nicht auf die Türschilder zu achten, die ihr entgegenkommen, aber da sind sie schon, da ist Justus’ Name noch einmal, da ist die vornehme Wohnung seiner Cousine, da sind sie bei seinen Verwandten. Nette Leute, aber du wirst ja sehen. Übrigens ist sie dir eine Spur ähnlich, das soll dir nichts ausmachen. Sie ist meine Lieblingscousine, sie wird dich gut aufnehmen.
Das hätte er nicht sagen sollen.
Nun sucht sie natürlich zuerst die Ähnlichkeit, das hindert sie, am Gespräch teilzunehmen, die schöne Cousine wird mich für blöd halten, freilich, solche langen Wimpern hat man bei uns nicht. Vielleicht sind die angeklebt. Liebste, heißt es. Aber so redet man sich doch wahrhaftig nur in Romanen an, duzen soll man sich, damit erst gar keine Fremdheit aufkommt, ist mir gleich. Ich vermeide die Anrede.
Dann erschrickt sie, als sie hört, sie beide seien fast gleichaltrig, unwillkürlich sagt sie: Das glaub ich nicht, beißt sich auf die Lippen und wird rot. Die Cousine lächelt.
Justus steht bei ihrem Mann und läßt sich erklären, was der denn bei der Börse wirklich zu tun hat: Nun mal ganz ehrlich, und langsam, für Anfänger. Ich versteh das sowieso nie, du, weil ich einfach nicht hinter den Sinn dieser ganzen Maschine komme, ebensogut könntest du chinesisch sprechen.
So ist Justus nun, sagt die Cousine, sehr zufrieden. Es macht ihm überhaupt nichts aus, hundertmal dasselbe zu fragen, er
Weitere Kostenlose Bücher