Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
ausgeht.Es war ein gutes Jahr, ein Übergangsjahr, das kleine Häuschen war nicht ihre Wohnung, doch sie wohnten gut darin, sie schwammen mit ihm in einer guten Strömung, mit dem Häuschen und dem Kind, sie machten eine kleine Familie aus sich, die noch nicht wußte, wo und wann sie an Land gehen und endlich Ernst machen würde.
    Hätten wir doch, sagt Justus zu mir, später nicht wie auf Abruf gelebt. Weil doch feststand, da wollten wir nicht bleiben. Ich glaube, das stand für uns beide vom allerersten Augenblick an fest, obwohl wir erst viel später darüber sprachen. Da haben wir uns nicht mal ein ordentliches Schlafzimmer eingerichtet. Du hast ja ihr Lager gesehen, diese niedrige Liege hinterm Schrank. Wie bitter muß sie da manchmal aufgewacht sein.
    Ich weiß nicht, worüber und ob er sich in Wirklichkeit Gedanken gemacht hat, aber ich denke, wieviel bitterer sie in einem ordentlichen Schlafzimmer erwacht wäre, jeden Morgen den ersten Blick auf einen Schrank, der unverrückbar an seinem Platz steht, während doch für sie das gewöhnliche Leben der Erwachsenen, die sich eingerichtet haben, die eingerichtet sind, noch lange nicht begonnen hatte. Sie ist, für sich selbst, jemand mit Aussichten, mit geheimen Möglichkeiten geblieben.
    Wer den Kopf jetzt wegwendet, wer die Achseln zuckt, wer von ihr, Christa T., weg und auf größere, nützlichere Lebensläufe zeigt, hat nichts verstanden. Mir liegt daran, gerade auf sie zu zeigen. Auf den Reichtum, den sie erschloß, auf die Größe, die ihr erreichbar, auf die Nützlichkeit, die ihr zugänglich war. Auf dieses mecklenburgische Landstädtchen also, das da ausKartoffel- und Roggenfeldern aufsteigt, ein Bilderbuchstädtchen mit einer roten Scheunenreihe, der buckligen Pflasterstraße auf den Markt zu, Kirche, Apotheke, Warenhaus, Café. Als sie näher kommt und wirklich alles so ist, muß Christa T. lachen, kein reines Siegerlachen. Der Ausgang ist nicht so sicher. Aber sie lacht, weil die Stadt eine Stadt bleibt, sich nicht auflöst, wenn man genau hinsieht, und auch nicht umkippt, wenn man sie antippt. Was hat sie sich aber auch gedacht? Daß es nie ernst würde? Daß der Ernst nicht auch mal aus Stein und Zement gemacht sein könnte? Ein großes Eckhaus zum Beispiel, eine Fensterreihe im ersten Stock mit dem Blick auf zwei Landstraßen, die sich gerade am Fuß des Hauses kreuzen, ein Hof mit einer großen Kastanie, die ausgetretene kalte Steintreppe, die häßliche braune Tür, an der ein Name steht ... Erleichtert will sie vorbeigehen, da ist es ihr Name. Also tritt sie ein.
    Sei still, Klein-Anna.
    Sie trägt das Kind durch den langen Gang in irgendein Zimmer, da steht schon ein Bett, sie legt es nieder. Sei still.
    Sie geht durch die anderen Zimmer, alle groß und kahl, tritt an die Fenster, Linden, Fachwerkhäuser. Hier also. Es widerstrebt ihr. Als sie sich umdreht, steht Justus in der Tür. Sie gibt sich einen Ruck. Warum nicht hier? sagt sie.
    Aber so unwichtig sind die Orte nicht, an denen wir leben. Sie bleiben ja nicht nur Rahmen für unsere Auftritte, sie mischen sich ein, sie verändern die Szene, und nicht selten ist, wenn wir »Verhältnisse« sagen, einfach irgendein bestimmter Ort gemeint, der sich nichts aus uns macht.
    Christa T. konnte nicht sagen, daß sie ihre Rolle nicht selbst gewählt hätte, sie sagte es auch nicht. Im Gegenteil, sie benannte sich, ironisch natürlich, in einem ihrer seltenen Briefe. Tierarztfrau in mecklenburgischer Kleinstadt, schrieb sie, fügte auch, wie um ihre Bestürzung abzumildern, einen Zweifel hinzu: Ob ich das lerne? Jedes Pferd, das eingeht, jede Kuh, die verkalbt, ist mir eine Katastrophe.
    Was sie in Wirklichkeit meinte, geht heute so klar aus dem Satz hervor, wie es sich damals darin versteckte. Dort stand: Das Spiel mit Varianten hat aufgehört. Es kann nicht mehr die Rede davon sein, nach Wunsch die Bühne zu wechseln oder einfach hinter dem Vorhang zu bleiben. Es gab nun eine Folge von fünf Wörtern, die sie selbst als Benennung für sich annehmen mußte.
    Auf die Frage: Was willst du werden? hätte sie jetzt zu antworten. Ich will, hätte sie zu sagen, jeden Tag früh aufstehen, um zuerst das Kind zu versorgen und dann für uns beide, Justus und mich, das Frühstück zu machen; ich will, während ich hin und her gehe, hören, was er mir aufträgt; ich will mir merken, daß ich den Kreistierarzt anrufen muß und wo ich ihn, Justus, erreichen kann, wenn von Bauer Ulrich aus Groß-Bandikow ein Anruf

Weitere Kostenlose Bücher