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Nachdenken ueber Christa T.

Nachdenken ueber Christa T.

Titel: Nachdenken ueber Christa T. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Warum eigentlich nicht? In jener Nacht bei unserem Tee, der kalt wurde, als die vielen hämischen Stimmen sich in unserem Zimmer trafen, merkten wir nur die Verdunkelung der Welt und merkten nicht, daß bloß die Bühnenscheinwerfer gelöscht waren und wir uns daran gewöhnen mußten, in das nüchterne Licht wirklicher Tage und Nächte zu sehen.
    Ein Wort kam auf, als sei es neu erfunden, wir glaubten ihm näher zu sein denn je: »Die Wahrheit« sagten wir, konnten es nicht lassen, diesen Namen immer wieder auszusprechen. Wahrheit, Wahrheit, als sei sie ein kleinäugiges Tier, das im Dunkeln lebt und scheu ist, das man aber überlisten und fangen kann, um es dann ein für allemal zu besitzen. Wie wir unsere früheren Wahrheiten besessen hatten. Da hielten wir ein. Nichts ist so schwierig wie die Hinwendung zu den Dingen, wie sie wirklich sind, zu den Ereignissen, wie sie wirklich passieren, wenn man ihrer lange entwöhnt war und ihren Abglanz in Wünschen, Glaubenssätzen und Urteilen für sie selbst genommen hat. Christa T. verstand, daß sie, daß wir alle unseren Anteil an unseren Irrtümern annehmen mußten, weil wir sonst auch an unserenWahrheiten keinen Anteil hätten. Übrigens hatte sie nie aufgehört, den Leuten in die Gesichter und in die Augen zu sehen, so wurde sie jetzt nicht von manchen Blicken überrumpelt. Die Tränen in den Augen, die sonst nie geweint hatten, erschütterten sie mehr.
    Ihre erste Geburt, die in diese Zeit fiel, war schwer. Das Kind lag schlecht. Sie brachte Stunden mit nutzlosen Anstrengungen zu. Natürlich erlahmte sie, aber sie flüchtete sich nicht in das Gefühl, ungerecht gequält zu werden. Sentimentalität stand ihr nicht einmal jetzt zur Verfügung, sie konnte nicht vergessen, daß sie das Kind wollte und daß der strenge Rhythmus von zerreißender Anstrengung und Entspannung nötig war, es hervorzubringen. Auch später hat sie nie gesagt, sie habe genug, man könne ihr nicht zumuten, noch mehr Kinder zu bekommen. Tränen kamen ihr erst, als der Arzt ihr das Kind auf die Brust legte, als sie es beim Namen nannte: Anna. Was machst du für Sachen, Anna, du fängst ja gut an, kann ich dir sagen. Auf Freude war sie ja gefaßt gewesen, auf etwas Bekanntes jedenfalls: Dies hier war unbekannt, es konnte sie schon aus der Fassung bringen. Na, na, sagte sie unhörbar zu dem Kind, zu sich selbst, das war nun dasselbe und doch nicht mehr dasselbe, ist ja schon gut, sei doch man ruhig, so einzig ist’s auch wieder nicht.
    Erinnert man Zärtlichkeit? Ist es Zärtlichkeit, was das Kind heute noch weiß, wenn es »deine Mutter« hört? Obwohl es der Zärtlichkeit, an die es sich erinnern könnte, entwachsen ist? Oder gar nichts, nicht einmal das?
    Das Sommerhäuschen in dem märkischen Dorf wird man ihr zeigen. Hier habt ihr zuerst gewohnt. Hier hastdu laufen gelernt, durch das Loch im Zaun bist du gekrochen, zum nahen Waldrand, bist eingeschlafen in einer Mulde zwischen Heidekraut und kleinen Kiefern, deine Mutter war halb tot vor Angst ... Nun wird das Kind sich zu erinnern glauben, was es nicht erinnern kann, und von den saftigen Bildern, die man ihm vorhält, werden die Schatten, die ihm manchmal bei geschlossenen Augen erscheinen und wahrer sind als die prallen Bilder, für immer verdrängt werden. Das Kind, Anna, wird auf den See blicken und glauben, dies sei der See ihrer ersten Jahre. Aber wie könnte er es sein? Damals war es kein See, sondern das Wasser überhaupt, und die hundert Meter bis zu seinem Ufer, das war der große, weite Weg, wer könnte sagen, ob er nicht in ihr ein Maß gesetzt hat für alle Wege. Einmal kommt der Tag, an dem sie ihren Schatten begreift, ihn ausprobiert durch Bewegungen, ihn anfaßt. Vergessen. Vergessen die frühesten Ängste: Dunkelheit, wenn man abends über die Schwelle der Veranda tritt, der fremde Hund, den der Vater laut schimpfend vertreibt, so daß man sich am nächsten und übernächsten Tag noch laut schimpfend auf dieselbe Stelle stellt, droht, aber ein Hund ist ja nicht da. Der Zauber hat gewirkt. Am schlimmsten aber ist die Fliege, die jeden Tag um die Lampe fliegt, wenn man erwacht. Die Mutter kann sie verjagen. Vergessen.
    Sie, Christa T., hätte nichts vergessen. Sie fand wohl, daß man gut versorgt ist, wenn man die Handgriffe alle tut, die das Kind braucht, ohne sich zu fragen, woher man das weiß und warum man ganz und gar beruhigt ist, wenn man sich über das Bett beugt und den warmen Duft einatmet, der von einem schlafenden Kind

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