Nachhaltig tot (German Edition)
Schuh hatte er verloren, am anderen Fuß steckte ein Slipper, der teuer aussah und die gleiche Farbe wie die Hose hatte. Nadja kniete sich neben den Toten, um ihn besser begutachten zu können. „Haben Sie ihn schon umgedreht?“, fragte sie Dr. Miller, den Gerichtsmediziner. „Nein,“ antwortete dieser, „ich habe auf Sie beide gewartet. Das ist noch genau die Auffindestellung. Aber wenn Sie so weit sind, können wir?“ Er reichte Nadja und Jan je ein Paar Einweghandschuhe und wandte sich an den jungen Kommissar. „Helfen Sie mir kurz?“ Jan verzog unwillkürlich das Gesicht. Auf ein gemeinsames Zeichen fassten sie den leblosen Mann an Schultern und Oberkörper und drehten ihn auf den Rücken. Wie erwartet strömte dabei ein Geruch aus, der Jan und Nadja, die bereits vorsichtshalber aufgestanden und einen Schritt beiseite gegangen war, die Mägen zuschnürte. Die Haut des Toten war bleich und aufgedunsen. Dr. Miller beugte sich über den Kopf und entfernte vorsichtig Sand, Schmutz und Algen. „Ich denke, sein Alter liegt zwischen 25 und 30“, wandte sich der Mediziner an seine beiden jungen Kollegen. „Er hat nur ein Auge!“, platzte Jan heraus und verzog abermals angewidert das Gesicht. Dr. Miller blieb wie immer vollkommen ungerührt, als er sich die leere Augenhöhle näher ansah. „Das mit dem Auge können die Fische oder irgendwelche anderen Tiere gewesen sein“, gab er zu bedenken, während er den Toten weiter begutachtete. „Meinen Sie, das ist der Student, der vor fünf Tagen verschwunden ist?“, wollte Nadja wissen. Sie presste sich eine Hand vor die Nase, um möglichst wenig des üblen Gestanks einzuatmen, der noch immer in der Luft lag. „Möglich ist es“, gab Dr. Miller zurück „aber bei dem Zustand der Leiche wäre es das Beste, wenn Sie uns DNA des Vermissten besorgen könnten, damit wir sie mit dem Toten abgleichen können – nur um ganz sicherzugehen.“ Nadja nickte und machte sich eine Notiz in ihrem Handy. Dr. Miller erhob sich. „Auf den ersten Blick sieht es nach einem Unfall aus, vielleicht ein Bootsunfall. Dem Toten ist ein Schneidezahn herausgebrochen. Andere Verletzungen konnte ich auf die Schnelle nicht entdecken – bis auf das fehlende Auge natürlich, aber das kann auch nach seinem Tod passiert sein. Ganz genau kann ich das natürlich alles erst nach der Obduktion sagen“, fasste er zusammen. „Ich melde mich dann mit dem Ergebnis.“ Nadja und Jan verabschiedeten sich. Auch wenn es immer gerne gesehen war, wenn zumindest einer der ermittelnden Kommissare daran teilnahm, war keiner von beiden wild darauf, der Obduktion beizuwohnen. Auf dem Weg zurück zum Auto zog Nadja die Gummihandschuhe aus. Obwohl sie die Leiche selbst gar nicht berührt hatte, fühlten sich ihre Hände schmutzig an, und sie hatte das dringende Bedürfnis, sie gründlich zu waschen. „Dann fahren wir jetzt zurück, besorgen uns die Unterlagen von dem Vermissten und sehen zu, dass wir an seine Zahnbürste oder so was kommen“, schlug Jan vor. Nadja nickte. Sie fühlte sich unwohl. Es gab kaum etwas, das sie an ihrem Job mehr hasste, als wenn sie Angehörige und Freunde eines Vermissten damit konfrontieren musste, dass man möglicherweise mit dem Schlimmsten rechnen musste.
***
Melanie saß am Küchentisch und rührte gedankenverloren in einer Tasse Magentee. Sie war seit zwei Tagen nicht mehr zur Uni gegangen, weil es ihr dafür zu schlecht ging. Ihre Mitbewohnerin Sophie stand neben ihr und streichelte sanft über ihren Rücken. „Hey, Kopf hoch – sicher meldet er sich heute bei dir. Du wirst schon sehen, alles wird gut“, versuchte sie sie zu trösten. Melanie konnte die Tränen nicht zurückhalten. „Aber fünf Tage! Das gab es noch nie! Klar hat er mal drei, vier Tage am Stück bis spät nachts gearbeitet, aber auch wenn er sich nicht selbst gemeldet hat, ist er doch zumindest immer ans Telefon gegangen, wenn ich ihn angerufen habe. Das kenne ich so gar nicht von ihm!“ Sophie setzte sich neben Melanie und nahm ihre Hand. „Sicher gibt es dafür eine ganz einfache Erklärung und am Ende lachen wir beide darüber, dass wir uns jetzt solche Sorgen gemacht haben.“ Es klingelte an der Wohnungstür. Sophie drückte den Summer der Gegensprechanlage und wenige Minuten später stand ein Mann im Anzug vor der Wohnungstür. Er war höchstens 23 Jahre alt, und sein Anzug sah aus, als hätte er ihn das letzte Mal an seiner Konfirmation getragen. Er wirkte extrem nervös. „Ähm, hallo,
Weitere Kostenlose Bücher