Nachhaltig tot (German Edition)
willst, musst du es schaffen, von deiner eigenen Position zurückzutreten und einmal anders auf die Sache zu blicken. Wir hier in Deutschland haben alles kapiert, aber nichts im Griff. Ich war oft genug in Frankreich, um das Kopfschütteln der Franzosen mitzubekommen. Wir sollen ein Vorbild sein? Mit einer Energiewende, die nicht stattfindet? Wenn wir wollen, dass sie was machen, müssen wir versuchen, sie zu verstehen und darauf eingehen. Wusstest du, dass das deutsche Trauma von der Inflation und der harten D-Mark beziehungsweise dem harten Euro ein Pendant auf französischer Seite hat? Das Trauma, dass sie sich nicht selber mit Strom und Energie versorgen können! Wir denken immer nur an die Energielobby, die den Ausstieg in Frankreich verhindert. Aber für die Franzosen bedeutet Atomstrom, autark zu sein und vor allem, der kompletten Bevölkerung billigen Strom anbieten zu können. Die Vorstellung vom Aus für die Nuklearindustrie ist für die Franzosen verbunden mit der Angst vor Mondpreisen für den Strom, der Vorstellung von Erfrieren im Winter und der Abhängigkeit von internationalen Multis. Wenn wir sie also überzeugen wollen, die AKWs abzustellen, dann müssen wir ihnen zeigen, dass ein Umstieg, ein schneller Umstieg auf alternative Energien möglich ist. Und da haben wir versagt.“
Ich nickte. Wollte ihn nicht zu einer weiteren Tirade reizen. Innerlich stimmte ich ihm zu. Wir wollten was von den Franzosen, also sollten wir auf sie zugehen. Aber dieses Atomkraftwerk direkt an der Grenze machte jedem in der Region Angst. Die Luxemburger hatten seinerzeit auf den Bau eines eigenen Atomkraftwerks verzichtet. Nicht nur die Bevölkerung demonstrierte von Anbeginn an dagegen, auch die konservative Regierung ließ keine Gelegenheit aus, die Abschaltung zu verlangen, weil bei einem nuklearen Unfall das ganze Land hinweggefegt werden könnte. Die Rheinland-Pfälzer wie die Saarländer hatten ebenfalls bis in die Landesregierungen hinein zahllose Aktionen geplant und unternommen. Nichts davon hatte die Franzosen beeindruckt oder veranlasst, über ihre „AKWs-direkt-an-den-Außengrenzen“-Politik auch nur nachzudenken. Geschweige denn, die Meiler abzustellen. Die neue Regierung sprach nun von einer Reduzierung der Atomstromproduktion – auf sehr lange Sicht.
Einen Erfolg hatte die Anti-AKW-Bewegung allerdings verbucht: Der neue Präsident hatte versprochen, die Reaktoren im elsässischen Fessenheim auszuschalten. Allerdings erst zum Ende seiner Amtszeit. Bis dahin würde noch viel Wasser den Rhein hinunterfließen. Aber immerhin. Cattenom jedoch werde eine Laufzeit von 60 Jahren haben. Das war gerade wieder bestätigt worden. Darum die Hoffnung, dem AKW auf andere Weise den Hahn abdrehen zu können.
„Du versprichst mir, den Mund zu halten“, brach Franz in meine Gedanken. Er sah mich forschend an.
Ich versprach es.
„Ich hab schon mehrfach versucht, diesen David Schmerber zu erreichen, aber er geht nicht ans Handy.“
„Meinst du, er ist untergetaucht?“
„Ich fürchte Schlimmeres. Dass er die Tat vollenden will.“
„Dann müssen wir …“
„Gib mir noch Zeit bis morgen früh, okay?“
Widerwillig stimmte ich zu.
Er war noch nicht zur Tür hinaus, da klingelte das Handy wieder. Dieses Mal war es Jacques, mein alter Kumpel aus grenzüberschreitenden Zeiten. Er habe gehört, ich sei bei der Demo dabei gewesen. Ja, sagte ich und gab zu, dass ich selber ein wenig recherchierte, weil ich nicht glaubte, es sei einer der Demonstranten gewesen. Das dächten sie inzwischen auch nicht mehr, meinte Jacques. Sie hätten die Person mit der Basketballmütze identifiziert. Ganz mysteriöse Geschichte. Ein gewisser Anthony Schmerber. Der läge aber zum Sterben krank in einem Pariser Krankenhaus. Mein Polizistenherz brannte darauf, Jacques von seinem Bruder zu berichten. Bis morgen früh, hatte ich Franz versprochen. Oh je. Unsere Freundschaft wurde auf eine harte Probe gestellt.
Paris, früher Abend
David stand unschlüssig an der Bushaltestelle vor dem Militärkrankenhaus. Er hatte bis jetzt keine Idee, wie er die Wachen austricksen sollte. So wie in Cattenom konnte er es nicht machen. Es war ein genialer Coup gewesen. Er hatte unter dem Namen seines Zwillingsbruders bei der Leihfirma angeheuert. Die waren gar nicht auf die Idee gekommen, dass sich einer Jahre später erneut bewerben könnte. Dem Anschein nach hatten sie ihn jedenfalls nicht darauf überprüft. Die ersten Aufträge hatte er abgelehnt,
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