Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
Vom Netzwerk:
selbst einfache Melodien wunderbar komplex klingen lässt.
    Bei diesem raffinierten Doppelspiel muss ich oft an den Regenbogen denken, der sein Territorium auf dem Feld hinter unserem Haus hat.
    Wenn ihm danach ist, vervielfältigt er sich.
    Für wenige, flüchtige Augenblicke stehen dann ein Forte- und ein Pianissimo-Bogen am Himmel und leuchten synchron.
    Wir haben »später« erreicht. Es folgt nun das »mehr«.
    Als Erstes zeichne ich den Ägypter.
    Er ist blond. Das kommt daher, dass er kein wirklicher Ägypter ist. Aber immerhin hat er fünf ganze Jahre und bis kurz vor der Einschulung in Kairo gelebt.
    Das Haus, welches die Familie des Ägypters hier in Deutschland bewohnt, ist von oben bis unten mit ägyptischen Mitbringseln angefüllt. Wo man hinschaut Vasen, Schriftrollen, Teppiche, kleine Statuen und Bilder.
    An den Wänden hängen zudem zahlreiche gerahmte Fotografien, die den Vater Hände schüttelnd inmitten einiger »echter« Ägypter zeigen, von denen die meisten lange, nachthemdartige Gewänder am Körper und weiße, mit schwarzen Kordeln befestigte Tücher um die Köpfe tragen.
    Der Vater des Ägypters ist Archäologe. Deshalb darf die Mehrzahl der im Haus herumstehenden und -hängenden Sachen, besonders jedoch alles, was nach Scherben aussieht, unter gar keinen Umständen berührt werden.
    Ich bin, trotz Berührverbot, sehr gerne dort.
    Die Mädchen, die Becher, Früchte oder Spiegel tragend über die Schriftrollen tanzen, sehen mir, wie mir mein blonder Freund bestätigt, alle ein bisschen ähnlich. Mag sein, dass mein Haar nicht ganz so schwarz und meine Nase nicht gar so spitz ist – die Form der Augen jedoch stimmt perfekt.
    Die zweitbeste Eigenschaft des Ägypters, neben seinem Ägyptersein, ist sein Saxofon. Seit seine Hände groß genug dafür sind, spielt er dieses Instrument, und weil sich für mich »Saxofon« wie »Sexofon« anhört und ich den Zusammenklang nie ganz aus dem Kopf kriege, muss ich immer ein bisschen grinsen, wenn er mir vorspielt. Glücklicherweise verübelt er mir meine Albernheiten nicht, im Gegenteil: Wenn die Atempausen es zulassen, befreit er sich vom Mundstück und grinst zurück.
    Fluchs ziehe ich Linien. Schnelle Striche formen ein sonnen- und saharagelbes Oval, lassen Haare und Ohren wachsen; Ein Gesicht mit krokodilgrünen Augen und einer Haut, hellrosa und glänzend wie glasierter Ton, entsteht.
    Am längsten beschäftigen mich Lippen und Mund, jene geheimnisvollen, korallenfarbenen Hieroglyphen, von denen nur wir beide wissen, worüber sie sich amüsieren ⁠…(Sexofon!)
    Der neue Papierbogen ist für »die Kopie« bestimmt.
    Natürlich hat »die Kopie« in Wirklichkeit auch einen Namen. Janine oder Jacqueline oder irgendeinen der anderen auf »-ine« endenden Namen, die meine Eltern allesamt geschmacklos finden, was mich im Falle von JasminCelineJustine ein bisschen traurig, beim Gedanken an jene Janine oder Jacqueline jedoch überaus heiter stimmt.
    »Kopie« nenne ich sie übrigens deshalb, weil ärgerlicherweise viele meiner Klassenkameraden und ein Großteil unserer Lehrer der Meinung sind, dass wir einander ähneln und uns, was ich besonders hasse, zuweilen sogar verwechseln.
    Mittels dieser Zeichnung gedenke ich, unsere Verschiedenheit auf besonders klare und deutliche Weise herauszustellen, um so, hoffentlich, den unerfreulichen Sehfehler meiner Mitmenschen zu korrigieren. Spätestens, wenn sie dieses Porträt sehen, müssen ihnen die Schuppen von den Augen fallen – so mein Vorsatz.
    Für ihre Haare wähle ich ein besonders kackiges Mittel- bis Hellbraun.
    Hundescheißfarbe, denke ich grimmig, während ich lange, dünne Strähnenstriche übers Papier ziehe.
    Falls jemand in der Klasse mein Haar zeichnen wollte, müsste er dagegen entweder einen ebenholzfarbenen Stift zur Hand haben oder sich für Schwarz entscheiden. (Erster, wesentlicher und eigentlich unübersehbarer Unterschied!)
    Weiter zu den Augen.
    Gewissenhaft zeichne ich zwei große Mandelformen, die ich, da keiner meiner Stifte bitterschokoladendunkle Spuren hinterlässt, kurzerhand schwarz ausmale.
    Meine eigenen Augen kennen keine Bitterkeit.
    Der Langnese-Honig, den meine Mutter, da sie strikt gegen Plastikverpackungen ist, nur in Not- und Ausnahmefällen einkauft, kommt meiner Iris farblich am nächsten. So ganz genau lässt sich meine Augenfarbe allerdings nicht bestimmen, da sie, je nachdem ob ich krank, traurig oder fröhlich bin, zu wechseln scheint ⁠… Die alte, in meinem

Weitere Kostenlose Bücher