Nachhinein
es. Einmal. Zweimal. Dreimal.
Sie hört das Wimmern ihrer Mutter.
00.30 Uhr.
Draußen ist nur noch der Fernseher zu hören.
Die Bruderbettwäsche bekommt salzige, feuchtwarme Flecken.
Der Schnakenstich blutet wieder.
11.
Ich sitze auf dem lederbezogenen Hocker und denke mit den Fingern. Da, wo die Klavierschule stehen sollte, kleben zwei mit Tesafilm befestigte Zeichnungen.
»Zeichne deinen Nebensitzer«, lautete der Arbeitsauftrag.
Da ich meine Schulbank nur äußerst ungern und nur in den Fächern, für die wir das Klassenzimmer verlassen müssen, mit jemanden teile, müsste man mich, strenggenommen, von dieser Aufgabe entbinden.
Aus Erfahrung weiß ich jedoch, dass Argumente, welche Sinn und Zweck der Hausaufgaben in Frage stellen, sowohl von Lehrern als auch von Müttern rigoros abgeschmettert werden. Ob die vorgebrachten Einwände dabei durchaus vernünftig und einleuchtend sind, spielt keine Rolle. Die als »immer offen« angepriesenen Erwachsenenohren bleiben diesbezüglich absolut taub.
Bäuchlings auf dem Perserteppich liegend habe ich also den kompletten Nachmittag mit dem Zeichnen zweier Porträts zugebracht. Die Auswahl der Modelle fiel mir ziemlich leicht. Noch bevor ich mein Buntstiftarsenal vollständig im dunkelblauen Bereich des Teppichs aufgereiht hatte, wusste ich, dass nur zwei meiner Klassenkameraden infrage kommen, nämlich: »Der Ägypter« und »Die Kopie«.
Aber dazu später mehr.
Im Allgemeinen gefällt mir die absurde Idee, dass sich eine in Farbe, Form und allen anderen Teilen permanent verändernde Welt, mittels einer Anhäufung dicker, dünner, verdichteter oder vereinzelter Striche auf ein Papier bannen lässt. Die kleine Enttäuschung, das Scheitern, das mit jedem meiner Versuche einhergeht, stören mich nicht, denn solange der Stift über die Fläche fährt, ist alles Hoffnung und alles möglich. Überdies beobachte ich seit einiger Zeit, dass zwischen Zeichnen und Klavierspielen eine Verwandtschaft besteht …
Ob man nun Klang- oder Holzfarben benutzt – die Gesinnung, das Grundgefühl, mit der man an »die Sache« herangeht, muss in beiden Fällen ein starkes, oder besser, das stärkste, das absolut intensivste und hingebungsvollste sein. Halbherzig- und Halblebigkeit führen in beiden Feldern nicht etwa bis zur Hälfte des Wegs, sondern schlichtweg nirgendwohin.
Wir nähern uns dem, oben auf später verschobenen, »mehr«. Ein paar Sätze in Sachen Technik müssen allerdings noch sein …
Zunächst müssen die Buntstifte (die »Farbtöne«), einer neben dem anderen, meine geliebte Klaviatur imitierend, vor mir in Reih und Glied liegen.
In meinem Kopf hat jeder Farbton einen Klang und jeder Klang einen Farbton.
Die Struktur dieser Ordnung überzieht Ohren und Augäpfel mit einem Netz, das kristallklare Klänge und Farben filtert.
Seit es diese Ordnung für mich gibt, muss sie auch sein.
Bevor mein Werkzeug nicht sortiert ist, rühre ich keinen Finger.
Vielleicht sollte ich an dieser Stelle hinzufügen, dass dies früher anders war, dass mich erst das Klavier so streng gemacht hat …
Am schönsten wäre es natürlich, Stift und Taste als Paar beieinander, beziehungsweise aufeinander liegen zu sehen … Der Nachteil dieser realen, sicht- und tastbaren Verbindung ist der, dass ich mich für jede neue Farbe vom Teppich aufrappeln und zum Klavier laufen muss. Die Melodie, welche ich zeichnend erzeuge, wird dadurch unnötig in die Länge gezogen, klingt unschön eintönig und, durch den großen zeitlichen Abstand der einzelnen Töne, seltsam abgehackt, wohingegen die erdachte Verbindung der Farb- und Tonelemente, jene reine Kopfkomposition, weitaus besser und flüssiger funktioniert … Auch lässt das Komponieren im Kopf, das Eingreifen in den Kreislauf aus Farbe und Klang, mehr Spontaneität zu. Ich brauche nichts weiter zu tun, als am Ufer des ewig strömenden Sehflusses zu stehen und mir die schillerndsten Farbforellen herauszufischen. Der Farbfisch an sich ist übrigens stumm. Sein Auftauchen jedoch wird zum Anstoß für jenes Singen in mir, zu dem er das Maul öffnet und schließt, als sänge er Playback …
Sehen erzeugt Singen. Der Ton entsteht also zunächst HINTER und dann, mit winziger Verzögerung – der Zeit, die meine Hand benötigt, um den Stift aufs Blatt zu setzen und eine Spur zu hinterlassen –, VOR den Augen. Auf diese Weise kann ich, wenn ich die aufzeichnende Hand verlangsame, sogar eine Art Kanon spielen/zeichnen, der
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