Nachhinein
vernebeln das Fernsehlicht.
Das Mädchen ist zu müde, um ins Bett zu gehen. Sie wartet und weiß nicht recht, auf was.
23.21 Uhr.
Das Knattern eines Mofas. Vertraute Geräusche im Hof. Zwei Schlüssellöcher noch, dann ist er da.
Als der Schlüssel den Schlitz zum dritten Mal verfehlt, weiß sie, dass es kein guter Abend werden wird. Und dennoch: Ein kleines Hoffen lässt ihre Schritte zögern.
Noch bevor sie die Tür zum Kinderzimmer erreicht, poltert der Vater in den Gang.
Sie schnüffelt. Es ist die bekannte, gefährliche Mischung aus Schnaps und altem Fett, die der Vater mit nach Hause bringt; der Geruch, der auch dem Bruder anhaftete, in den Wochen vor dessen Auszug. Seit der Bruder fort ist, hat sie das Zimmer für sich. Das hat den Vorteil, dass sie sich nicht, wie früher, schlafend stellen muss, während er seine Freundin bumste. Trotzdem vermisst sie ihn manchmal.
Vorsichtshalber wird sie noch ein Weilchen aufbleiben. Vielleicht braucht der Vater noch Zigaretten. Dass er bloß nicht die Mutter weckt. Sie hat ja morgen Frühschicht …
Kaum dass er im ockerfarbenen Plüsch des Sofas versunken ist und die Stiefel aufgeschnürt hat, will er schon was. Einen Wein soll sie ihm aufmachen. Irgendwo in der Küche müsse einer stehen. Sie macht sich auf die Suche. Die Minuten verstreichen. Da ist kein Wein. Nicht im Kühlschrank und auch nicht bei den Getränkekisten.
Im Wohnzimmer wird es laut. Wo bleibt sie denn?
Ihre Finger verharren unentschlossen am Rand des Geschenkkorbs, von dem sie weiß, dass er für eine Arbeitskollegin der Mutter bestimmt ist. Wenn sie jetzt mit leeren Händen zum Sofa zurückkehrt, wird er ihr eine knallen. Bleibt sie noch länger, wird er in die Küche kommen, wird den Korb und die Flasche sehen, die neben der Schokolade im Geflochtenen liegt, und ihr erst recht eine knallen, weil sie sich nicht beeilt hat.
Das Gebrüll wird lauter.
Sie reißt die Flasche aus dem Korb und läuft ins Wohnzimmer. Zum Glück ist es eine mit Schraubverschluss. Es macht ihn böse, wenn sie die Korken nicht anständig rauskriegt.
Ein Glas muss sie ihm nicht hinstellen, das weiß sie. Nach den ersten Schlucken wirkt er beinahe friedlich. Wenn er sein Gesicht entspannt, sieht man, wie ähnlich sich Vater und Tochter sind: dieselben schlitzigen Äuglein, dieselben Locken, nur sind seine bereits angegraut, während ihre in hellbraunen bis mittelblonden Kringeln auf die Schultern rieseln.
Zehn Stunden in der Papierfabrik schuften. Tonnen von Kartonpappe herstellen. Messwerte ablesen, Maschinenteile austauschen, Kühl- und Schmierstoffe nachfüllen …
Sie versteht, dass das anstrengend ist, und sie versteht auch, dass er jetzt Hunger hat.
Brote kann sie eigentlich ganz gut schmieren. Seit die Mutter die Brotschneidemaschine gekauft hat, gibt es keine misslungenen Scheiben mehr. Aber der Vater will kein Brot. Er will Leberkäse.
Sie weiß nicht, wie Leberkäse geht.
23.45 Uhr.
Er packt sie am Arm, schleift sie in die Küche. So. Jetzt wird er ihr zeigen, wie man Leberkäse brät. Von der Mutter lernt sie’s ja nicht.
Plötzlich fühlt sie sich müde. Todmüde. Während er die Pfanne aus dem Schrank nimmt, fallen ihr die Augen zu. Vorsichtig fragt sie, ob sie ins Bett gehen darf. Er kann ihr das doch morgen zeigen –
Noch bevor sie die Arme vors Gesicht reißen kann, kracht die Pfanne gegen die Küchenwand. Glatt Gekacheltes zerbirst unter gusseiserner Schwärze.
Sie will also nicht, was? Gut, dann zeigt er ihr’s eben nicht! Soll sie selber sehen, wie sie’s lernt! Aber damit eins klar ist: Wenn morgen Abend kein Leberkäse auf dem Tisch steht, wird er sie windelweich prügeln!
Die Mutter erscheint in der Küchentür. »Geh ins Bett«, zischt sie und schiebt die Kleine in den Gang.
»Einen Scheiß muss sie, hierbleiben soll sie«, brüllt der Vater zwischen zwei Schlucken.
Bleiben oder Bett? Verzweifelt tritt sie von einem Bein aufs andere, weiß nicht, wohin mit sich.
»Ach, zum Teufel, soll sie doch abhauen! Soll sie sich ins Bett verpissen, die taube Nuss. Hohl im Kopf, das ist sie!«
Die Mutter erkennt die Weinflasche aus dem Geschenkkorb wieder.
Na und? Es ist seine Wohnung! Hier trinkt er, was er will! Ist nicht seine Schuld, dass sonst nichts im Haus ist!
Behutsam schließt das Mädchen die Zimmertür. Das Geschrei wird dumpf.
Sie legt sich ins Bett des Bruders. Gut, dass er es nicht mitgenommen hat. Sie riecht die Reste seines Rasierwassers.
In der Küche klatscht
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