Nachhinein
kann’s.
Ich bin nicht gut im Bluten. Ich weiß auch, warum: Will man Blutrot sehen, so braucht man zunächst eine Wunde, etwas klaffendes, einen Spalt. Seit ich mich zum letzten Mal vor dem Schlafzimmerspiegel auf derlei Spuren hin untersucht habe, sind noch keine zwei Wochen vergangen. An jenem Nachmittag bin ich mit nacktem Hintern und M-förmig aufgestellten Beinen ganz nah ans Spiegelglas gerutscht, konnte aber beim besten Willen nichts wundenartiges an mir entdecken.
Zwei kleine, von einer Falte geteilte Wülste, dahinter das Kackloch. Weiter nichts.
Der Zeige- und auch die anderen Finger lassen sich, jeweils einzeln, ein Stückchen zwischen und in jenen Faltenspalt schieben, was sich an den Fingerkuppen so anfühlt, als betaste man die feucht-glatten Innenseiten der Lippen.
Schmerzen hatte ich dabei keine. Der Spalt verhielt sich überhaupt nicht wie eine anständige, offene Wunde. Nach mehreren sinnlos verstocherten und verpulten Minuten musste ich akzeptieren, dass bei mir schlichtweg keinerlei Verwundung vorlag.
Ich bin zu gesund.
Mein Körper schließt, heilt und wächst vollautomatisch, will weder Wunden, noch weitere Löcher.
Ob meine Eltern davon wissen?
Wenn ich, nach dem Orangensafttrinken, das ich nicht recht vertrage, »unten« wund war und mich im Badezimmer, Knie neben den Schultern, Po nach oben gestreckt, auf die Fußmatte legte, um mich von meiner Mutter mit Bepanthen eincremen zu lassen, müsste ihr doch aufgefallen sein, dass da was nicht stimmt …?
Vielleicht findet sie’s nicht weiter schlimm. Vielleicht ist sie froh, dass sie mich nie bluten sehen muss …
Letzten Endes ist die Tatsache, dass ich unversehrt, intakt, wohlauf und wohlbehalten bin, dass ich vor lauter Heil und Segen nur so strotze und mein Körper den durchschnittlichen weiblichen Körper an Ganz- und Gesundheit übertrifft, doch ein Grund zur Freude …
In der Tat fühle ich jetzt, wo ich langsam Richtung Traumreich drifte, eine Art grimmiges Triumphieren in mir aufsteigen.
Meinetwegen kann die Frauenschublade geschlossen bleiben, denkt es noch trotzig hinter meiner Stirn. Dann schlafe ich ein.
Wenige Stunden später bricht im Garten der allmorgendliche Lärm los.
Das Vogelorchester legt sich mächtig ins Zeug.
Barocke Singblasen quellen durchs gekippte Fenster. Alles altbekannte Melodien. Ticksen und Schnickern, Tschilpen und Keckern, dazwischen die Schlagzeugschläge des Buntspechts. Zizi-Bäh und Zizi-Dü, Wid-Wid und Wäd-Wäd, und in den Pausen das weichgeflötete Diüüü des dickbauchigen Dompfaffs, von dem ich genau weiß, wie er klingt, weil er mein Lieblingsvogel ist. Er singt so wunderbar tieftraurig, dass man ihm besonders, noch vor allen anderen, Gehör schenken muss. Für meine Mutter klingt er »melancholisch«; mein Vater sagt, er hat »den Blues« … Was immer er hat, ich höre ihn gern, und wenn er eines Morgens, nach dem Konzert, mit seiner schwarzen Kappe in den Krallen bettelnd auf dem Fenstersims säße, bekäme er all mein gespartes Kleingeld. Ganz bestimmt.
Draußen singen sie weiter wie verrückt, und ich bin wach, wach, wach. Wie gerne würde ich aufstehen und die Vögel am Klavier begleiten … Aber da ich weiß, dass die Konsequenz eines frühmorgendlichen Klavierkonzerts äußerst übelgelaunte Eltern sind, halte ich meine Hände im Zaum.
Um dennoch nicht ganz untätig sein zu müssen, decken die noch immer blutende JasminCelineJustine und ich den Frühstückstisch.
Die unversehrte Rahmschicht auf der gestern Abend in Sulpach abgemolkenen Milch macht mich glücklich.
Einer spontanen Eingebung folgend unterteile ich den Esstisch in Bluter und Nichtbluter, in Frauen und Nichtfrauen. Die Frauenseite wird marmeladen-, beeren- und salamirot. Um die Teller der Gegenseite scharen sich Butter, Milch und Käse. Dieser nichtroten Seite, an der später mein Vater und ich Platz nehmen werden, würden außerdem noch das Brot und die Haferflocken zustehen. Aber ich will nicht allzu streng sein und errichte stattdessen einen Mittelstreifen aus Getreide, von dem beide Seiten zehren dürfen.
Mit gekreuzten Beinen setze ich mich auf den Stuhl meines Vaters, betrachte mein Werk und denke, dass es eigentlich keinen Grund gibt, sich hier nicht wohlzufühlen, auf der Gegen- und Butterseite.
10.
In einer kleinen Gemeinde in Süddeutschland, auf der Westseite einer Straße mit Tiernamen, steht ein Mehrfamilienhaus. Die Wohnung im Erdgeschoss ist dunkel. Bläuliche Rauchschwaden
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