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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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auf dem orangefarbenen, von Elefanten gesäumten Teppich mit Goldbrokat wieder. Sein Schatten befleckt grasgrün den Tempelboden. Wieder kämpft er. Das aufgeregte Trompeten der Elefantenparade beendet die Runden.
    Fingerdruck.
    Ein eisiger Windhauch streift den Kampfplatz. Ryu erträgt die Kälte mit stoischem Gleichmut. Stirnband und Gürtel flattern, sein Stand bleibt felsenfest. Hinter seinen verschränkten Armen schlägt ein Herz, das keiner hört.
    Fingerdruck.
    Die Sonne ist ein launischer Stern; wechselt die Farbe wie Stimmungsringe; erhellt zwar die Landschaft, zeigt sich jedoch nie. Einziger verlässlicher Hinweis auf ihre Existenz bleiben die Schatten zu Füßen der Kämpfenden, pfützenförmige Begleiter in Rotzegrün oder Burgunderrot, Ultramarin oder Mausgrau. Nur in Vegas klaffen die Schatten schwarz unter den Gegnern, zwei Löcher zwischen Tausend blinkenden Lichtern und winkenden, weiblichen Fans; Lichtschlucker unter kurvigen Neonröhren, die sich in geölten Ärschen und hochglanzpolierten Straßenkreuzern spiegeln. Zuhälter in kirschroten Anzügen preisen ihre Mädels an. Wie Geier umkreisen sie den Ring, dressierte Fleischfresserinnen in Stringbikinis und knöchelhohen Stiefeln. Ryu sieht sie nicht. Er sucht nach würdigen Gegnern.
    Pause.
    Zwischendurch ein Teller Nudeln mit Ketchup. Auf dem Küchenkalender wird ein weiterer Tag ausgestrichen, der wahrscheinlich sonnig war. Der Rollladen bleibt unten.
    Sie sehnt sich nach der Blutsschwester und entdeckt die Nagelschere. Der Mut, den Schnitt zu wagen, macht sie schmerzfrei. Wunderbar schmerzfrei. Der Küchenkalender wird überflüssig. Sie kerbt die Tage in den Unterarm.
    Auf ihren Oberschenkeln wächst eine Reihe paralleler Mahnmale. Ein Strichcode, dessen verkrustete Streifen den Namen des Vaters verschlüsseln. Sichtbar verwundet zu sein, tut gut. Sie legt sich die Schere unters Kopfkissen.
    Wie viele Wochen es waren, weiß sie genau. Sie hat sie alle gezählt. 6x7x24 Stunden lang warten. Warten, dass sie heimkehrt, während sich all das wiederholt, was sie nie wiedersehen wollte.
    Irgendwann kommt eine Postkarte:
    »Liebe JasminCelineJustine! Wie geht es dir? Mir geht es ausgezeichnet! Wir sind hier in einem Haus MIT Klavier. Du solltest es sehen. Es bricht fast auseinander, wenn man darauf spielt! Ansonsten baden und besichtigen wir unheimlich viel. Die Leute hier spinnen ein bißchen. In den Gärten hängen TOTE TINTENFISCHE auf den Wäscheleinen!! Das Essen schmeckt aber trotzdem gut. Bis bald, Deine LottaLuisaLuzia.«
    Sie liest die Karte ein Dutzend Mal, fährt mit der Fingerkuppe über die Buchstaben, drückt das Papier an Lippen und Brust.
    Wie bald ist bald?
    39.
    Der Wind fächert das Cape auf. Umhangfalten fallen von seinen Schultern und hüllen ihn ein. Er steht und wartet, Rumpf und Arme verborgen hinter grauem Stoff. Er verrät sich durch nichts. Seine Erregung bleibt unberechenbar. Sie weiß: Irgendwann wird es fallen, sein Cape. Dann heißt es kämpfen. Kämpfen um Rückzug und Blindheit und stumpfe Glieder, um Taubheit und Vergessen. Ein Teil von ihr darf gehen, ein Teil muss bleiben. Doch traut sich der Teil ihres Selbst, der sich abspalten, der entschlüpfen darf, niemals aus dem Zimmer. Stattdessen leistet er der Hülle, die da auf dem Bett bleiben muss, Beistand. Die Seele entfernt sich nur ungern von ihrer Wohnstätte. Ihr Exil grenzt an das hölzerne Bettgestell. Von dort aus sieht sie jedes Haar und jede Druckstelle, jeden Schweißtropfen und jedes Muskelzucken. Ihre Sehschärfe ist jedoch keine Schere. Sie erleichtert nichts.
    Manchmal das Gefühl, dass er, wenn er so zusticht, direkt bis zum Herzen vordringt. Sein Giftpilz mit der schleimigen, rosa Kappe bringt es zum Platzen. Und dieses Herz, ihr Herz, läuft aus. Vermischt sich mit den Schatten. Verschwindet unterm Bett.
    Wo ist Ryu?
    Sie denkt an seinen Sieg inmitten der Tempelanlage. Erinnert sich an die überlebensgroße, vergoldete Buddha-Statue, die dabei zu Bruch ging. Dort, umgeben von den Wohnzellen der Mönche, hat er des Masters Knochen zerschmettert. Die Kuttenträger verharrten ungerührt im Lotussitz, die Hände zum Gebet gefaltet. Die heiligen Männer nahmen den Tod des Masters als natürlich und unvermeidbar hin, stellten seine Notwendigkeit ebenso wenig in Frage, wie das Erscheinen und Verschwinden der Wolken am Himmel. Die Gerechtigkeit ist ein Fluss, der unaufhaltsam weiterströmt; der weder stockt noch stoppt und nirgends Rast macht, ehe er nicht

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