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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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zu Chupa Chups und Getränkedosen: Das Ziehen der Dosenlasche hat etwas vom Entsichern einer Handgranate. Ein kleines, kaltes Ding mit 0,33l sprudelnder Sprengkraft. Auf Zisch folgt Knack folgt Riss. Weiche Lippen über scharfkantigen Blechlöchern. Schluck- und Gluckgeräusche. Der letzte Tropfen und die unvermeidliche Zerstörung der Tonnenform durch Zerquetschen. Meine plötzlich gewaltige Hand, die das Metall verformt und fallen lässt. Das Klappern als blechern scheppernder Anpfiff zum Anstoß. Schon schliddert die Dose über den Asphalt. Und wie ich so trete und kicke und mir, anstelle eines Grashalms, der Stil meines Chupa Chups (»Saurer Apfel«) im Mundwinkel steckt, denke ich stets an Huckleberry Finn. Dann kommt der Mülleimer.
    Heute also wieder ein verschulter, verregneter Nachmittag. Die Brote sind vertilgt, die Dosen geleert. Es bleibt noch Zeit. Wir (der Ägypter, ich und ein feister Junge namens Dirk, Dieter oder Daniel) sitzen auf den giftgrünen, kratzigen Sesseln der Schülerbücherei. Das niedrige, zu den Kratzsesseln gehörende Sofatischchen trägt die Last der großen »Das-war-19soundso«-Bildbände mit der Geduld eines gutmütigen Ponys. Ein Band allein reicht uns nicht. Die Bilderflut entfaltet ihren wahren Reiz erst dann, wenn simultan in mehreren Büchern geblättert wird, wenn unterschiedlichste Ereignisse direkt nebeneinander stehen, wenn das Unvereinbare sich nahekommt und mit ein und demselben Blick zu erfassen ist. Mit ungeduldiger Hast, angespannt, als öffneten wir fremde Briefe, schlagen wir die Seiten um; immer auf der Suche nach der nächsten Sensation, der nächsten Ungeheuerlichkeit. Alles, was die gnadenlos unbestechliche Linse der Kamera gesehen und festgehalten hat, enthüllt sich vor uns, den (fast) unschuldigen Voyeuren.
    Ab und an schielen wir nach der Aufsicht, die von unserer Vorliebe für großformatige Nahaufnahmen von nackten oder halbnackten Personen besser nichts erfahren soll.
    In der Schülerbücherei vergesse ich den Schulterblick nie. Würde die Fahrradprüfung nicht auf dem Verkehrsübungsplatz sondern hier, zwischen den Regalen, stattfinden, bestünde ich sie mit null Fehlerpunkten. Ganz bestimmt.
    Ich blättere um und finde mich in der Wüste wieder. Auf einem Humvee-Geländewagen mit aufgepflanztem Maschinengewehr kommt mir ein halbes Dutzend junger Soldaten entgegen. In der Ferne lodern die Fackeln brennender Ölfelder, feurige Säulen inmitten schwarzer Rauchwolken.
    Weiter. Ein Araber im Anzug. Haar und Schnurrbart pechschwarz, Krawatte und Einstecktuch in seidig glänzendem Hellgrau. Neben seinen Knien steht ein blonder, vielleicht sechsjähriger Junge in weißem T-Shirt und blauen Turnhosen. Ich überfliege die Bildunterschrift, in der von Propaganda, Geiselnehmern und Saddam die Rede ist.
    Nächste Seite. Meine Augen gleiten über einen enganliegenden, leuchtendweißen Sprintanzug, dessen Seitenstreifen schwungvoll die schmale Taille seiner Trägerin nachzeichnen. Blondes Haar und lange, schnelle Gazellenbeine. Katrin Krabbes Körper.
    Umblättern. Drei Staatsmänner sitzen um einen Tisch, dessen Platte ein urwaldriesendickes Stück Stammscheibe ist. Auf der Halbglatze des Mittleren prangt ein großer, rötlicher Fleck. Zu seiner Rechten sitzt Helmut Kohl, dessen Gesicht sich hinter einem sperrigen Brillengestell aus Metall versteckt. Er streckt eine Hand aus, die, verglichen mit der Restmasse seines Körpers, geradezu winzig wirkt.
    Weiterblättern. Das Cover eines Magazins schreit »Alle wollen Claudia!« und meint die große, vollbusige Blondine mit dem offenen Mund. Im nächsten Bild eskortiert jene Claudia einen älteren, grauhaarigen Mann mit Sonnenbrille und Pferdeschwanz. Sie trägt ein knappes, durchsichtiges Brautkleid. Ich frage mich, ob sie ihren Mund auch schließen kann, oder ob Gottvater, in dem Wissen, dass ein kleiner, lasziver Lippenspalt grundsätzlich reizvoller aussieht, ihr diese Fähigkeit schlichtweg nicht zugeteilt hat.
    Was noch? Ein amerikanischer Präsident mit großer, gekerbter Nase, flankiert von Ehefrau und Tochter, einer Zahnspangenträgerin mit Locken. Aus dem Schmelzwassersee eines Gletschers bergen sie begeistert mumifizierte Leichen. Matthäus mit dem Weltpokal. »Pretty Womans« verführerisch glänzende Lackstiefel. Feiernde, die Trabbis mit Sekt bespritzen. Ein Grenzposten nimmt eine Rose entgegen. Tausende tanzen auf der Mauerkrone. Micky und Minnie in leidenschaftlicher Umarmung vor der Kulisse eines

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