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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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verborgenen Ort, wo mich tiefer, traumloser Schlaf ummantelt.
    Es wird still.
    Nur manchmal, wenn der Wind sich dreht, schlüpfen Fetzen sangriagetränkter Schlager durch die gegen Schnaken vergitterten Fenster, um uns, die wir ahnungslos schlafen, unbemerkt eine Reihe altbekannter Gassenhauer einzuimpfen.
    Wenige Stunden später treffen am Frühstückstisch drei Ohrwurmbefallene zusammen, pressen und köpfen, toasten und schmieren sich die Morgenmahlzeit und bemerken plötzlich, dass sie alle dasselbe summen: »… die Sonne scheint bei Tag und Nacht, / E VIIIIIIIIIIIVA ESPAÑA !!!«
    Man schüttelt lachend die Köpfe und verbietet sich gegenseitig den Mund.
    36.
    Glas, Plastik, Kupfer und diverse andere Metalle. Kein Werkstoff, von dem sie wüsste, wie er sich zusammensetzt.
    Die Konsole steht noch immer in dem kleinen Zimmer mit Blick nach Norden. Angegraute Gardinen filtern das Tageslicht. Die kümmerlichen Überreste, die es durch die Maschen schaffen, bemühen sich redlich, die Umrisse des Mobiliars kenntlich zu machen.
    Der Controller ist nicht mehr frei von Gebrauchsspuren. Fettflecken, Kratzer und wackelige Schultertasten zeugen von täglicher, intensiver Nutzung. Unverändert dagegen das Geschehen auf dem Bildschirm: Die Spielwelt, frei von jedweder Halbwertszeit, kennt keinen Zerfall; veraltet, ohne zu altern, während ihr Mutterkonzern unablässig Nachfolger und Neuheiten auf den Markt wirft.
    Sie sitzt und spielt. Das Verb »spielen« beschreibt ihr Tun längst nicht mehr angemessen. Ihre Handlungen haben nichts Spielerisches. Weder Lust, noch Leichtsinn begleiten die Bewegungen ihrer Finger. Klicken, tippen und drücken erfolgen vollautomatisch. Abläufe verbleiben im Gewohnten, wie Flüsse in ihren Betten.
    Alles schon mal da gewesen.
    Die Gewissheit, das Ungesehene eliminiert zu haben, beruhigt sie. Mit spontanen Entwicklungen der erschreckenden Art ist, zumindest innerhalb der nächsten Stunden, nicht zu rechnen. Pflichtschuldige Finger und bildschirmfixierte Augen verhüten zuverlässig das Unerwartete. Die Blase bleibt intakt.
    Ebenso das verlassene Haus gegenüber, dessen Garagenmaul sechs lange Wochen kein Auto ausspeit oder schluckt.
    Haus. Konsole. Schweiß. Tagschweiß, Nachtschweiß, Angstschweiß. Kein Morgen, an dem ihre Haut nicht von dem schmierigen, stinkenden Film überzogen wäre.
    Am Schichtplan der Eltern rütteln kein Sommer und keine Ferienzeit. Papier wie Greise wollen produziert und versorgt sein.
    So manche Alte entflieht der Hitze. Auch im dementen Zustand erinnern sie sich der sprichwörtlichen Grabeskühle. Eine Erinnerung, die augenscheinlich früher oder später Todessehnsucht und sich dramatisch verschlechterte Zustände verursacht ⁠… Auch dieses Jahr sterben sie wie die Fliegen. Verkleben die Betten mit ihren Flüssigkeiten absondernden Leichen. Auf dem in einer Klarsichthülle steckenden Zettel eingangs der Küche schrumpft die Anzahl der zuzubereitenden Schonkostmahlzeiten. Der Geschirrwagen schiebt sich leichter.
    Die Mutter macht Überstunden.
    Im Kühlschrank findet sich nichts als gelbes, kaltes Licht.
    Mutters Mädchen weiß sich zu helfen, läuft zum Dorfladen, wo man sie kennt und anschreiben lässt.
    Das Loch im Bauch drückt gegen die Rippen. Zähne werden spitz. Knurrend schreitet sie die Regale ab. »Gut und Günstig« muss es sein, sonst schimpft die Mutter. Der Korb füllt sich: Ketchup, Lyoner, Nuss-Nougat-Creme, Tiefkühlpommes. Des Weiteren zwei 1,5 l Flaschen Cola.
    Die Packung Schaumzucker-Erdbeeren, die nicht gut und günstig sondern »Haribo« ist, verfehlt den Korb. Erst als der Supermarkt außer Sichtweite ist, zieht sie die Tüte aus ihrem baumwollenen Versteck. Die Beeren, welche die letzten 20 Minuten zwischen Hosenbund und Nabel verbracht haben, sind weich und klebrig und bauchwarm. Sie verschwinden schnell, eine nach der anderen, Rosa zu Rot, Rosa zu Rot, Rosa zu Rot, in ihrem Mund. Die Süße macht sie lächeln. Als sie das beigefarbene Haus erreicht, stippt der Abend den grellorangefarbenen Sonnenkeks in den Waldmeisterstreifen am Ende der Spielstraße. Sie schleckt die Zuckerreste ihres späten Frühstücks aus der Tüte und wirft sie in die Nachbartonne.
    Noch ist der Tag nicht überstanden. Folgendes steht noch aus:
    Der sturzbetrunkene Vater weckt die müde Frühschichtmutter. Gebrüll und Gekreische. Dann dumpfes Poltern, dem nicht das Weinen der Mutter, sondern Stille folgt. Die Schaumzuckerdiebin presst das Ohr gegen die Tür

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