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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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und hofft. Hofft und wartet und wagt keinen Schritt, bis nicht das Plappern der Fernsehstimmen verkündet, dass der Weg frei ist. »… leben länger, mit Calgon!« ist heute ihr Signal. Leise huscht sie ins elterliche Schlafzimmer.
    Das mütterliche Nachthemd zieren leuchtendrote Spritzer, von denen die kleinsten bereits auftrocknen. Mit geübten, wenn auch leicht zittrigen Handgriffen, versorgt die erschöpfte Mutter eine Wunde über der rechten Braue, die eigentlich genäht werden sollte.
    Als sie ihr weinendes Kind im Türrahmen sieht, legt sie den Finger auf die Lippen.
    Das Kind versteht. Es presst die Hände auf den Mund, verbietet sich das Schluchzen.
    37.
    Sechs Wochen gesammelter Sommer. Zwischen Buchstaben gepresste Eindrücke, umklammert von Sätzen. Ein Herbarium voller, zur Ferienzeit aufgeblühter, Augenblicke.
    LottaLuisaLuzias Sommersammlung:
    Glatte Sandalensohlen auf kahlen Stellen. Knöchel, vom Gestrüpp zerkratzt, streifen durch die immergrüne Pflanzengesellschaft der Macchia. Kräuter verhüllen Hänge mit würzig-duftenden Wolken, Atemzüge füllen Lungenbläschen mit ätherischen Ölen. Wohltuende Schatten vereinzelter Pinien. Wehrhaftes Grün mit Nadeln, Dornen, Stacheln. Sonne, Pflanzen, alles sticht.
    Unberechenbare Tierwelt auch hier: Schwalbenschwänze und Schlangen zwingen mich zum Stillstand. Taumelndes, Schlängelndes, Flatterndes und Kriechendes im Zickzack, mal hierhin, mal dorthin – ihr Wohin ein ewiges Rätsel. Erst die Sicherheit, dass mich kein Flügel und keine Schuppe berühren wird, löst meine Erstarrung.
    Es wimmelt von lachenden, kreischenden, kackenden Möwen. Nur die Mütter schweigen, kauern sich still in ihre Nester und glänzen silbrig. Vogeleier in den Klippen, Ferienhäuser an den Hängen. Neubau und Nestbau. Überall vermehrt man sich.
    Auf unseren Wanderungen folgen wir kugelrunden Kötelspuren, welche schnurstracks auf kleine, baufällige Häuschen mit einheimischer Küche zuführen. Man serviert uns Kaninchen. Dazu: scharfe Scheiben Chorizo und Brotscheiben in weißer, ölig-salziger Knoblauchtunke. Ich vergesse, was mild ist.
    Immer wieder Ausblicke, von Handkanten verschattet, die über Zinnen, Türme, Tore und Bögen streifen. »Die Mauren erbauten dies, errichteten das; herrschten und gründeten; eroberten, beanspruchten und regierten, bis schließlich der katholische Heerführer ⁠…« Meine Eltern bestehen darauf, die Reiseführertexte laut vorzulesen. Ich langweile mich.
    Am Hafen beugen sich gegerbte Männer über ihre Netze. Sie flicken. Andernorts nehmen ihre Frauen greuliche, grauglänzende Tintenfische aus.
    Sepiabraune Hände hängen lange Fangarme, deren Saugnäpfe wie rosa Zitzen aussehen, auf drahtige Wäscheleinen: eine Krake, ein Kleid; genoppte Arme, gerippte Hemden. Alles trocknet vor sich hin.
    Ich merke mir spanische Vokabeln wie dulce, chica und turron.
    Mein Vater kurbelt zum tausendsten Mal die Scheibe runter, tippt auf Karte oder Reiseführer und fragt »Donde esta ⁠…?«, bevor wir weiterrollen über Autobahnen, auf deren Mittelstreifen Oleanderbüsche wachsen. Ich sehne mich nach dem Wasser unserer wunderbaren Bucht, diesem halbmondförmigen Becken voll kühler, lindernder, blau-grün-türkis glänzender Salztinktur.
    Wie viele Wochen wir geblieben sind, weiß ich nicht mehr. Ich habe sie nicht gezählt. Im Strudel von Schwimmen, Schlafen, Essen und Orangen-Pressen verdünnen und verflüchtigen sich die Gedanken an zu Hause. Der Name des Ortes, von welchem wir aufgebrochen, und an den wir zurückkehren werden, verbleicht unter Spaniens gelbem, von Ost nach West kullernden Feuerball.
    Irgendwann schreibe ich zwei Postkarten. Eine an den Ägypter, eine an JasminCelineJustine. Dann vergesse ich sie wieder.
    38.
    JasminCelineJustines Sommersammlung:
    Zwischen den schilfgedeckten Hütten der Eingeborenen wächst ein gewaltiger Urwaldriese, um dessen Stamm sich Lianen und Pythonschwänze ringeln. Weiße Wolkentürme harren der Stunde, da sie sich in den Amazonas ergießen dürfen. Zwei Europäer mit Tropenhüten haben sich unter die Zuschauer gemischt.
    Der Gegner ist grünhäutig; ein Wesen, halb Mensch, halb Tier, aus den Tiefen des brasilianischen Regenwaldes. Man nennt ihn Blanka. Ryu siegt.
    Für jeden Sieg blinkt ein neues Kreuz auf der Karte. Kein Kontinent, der nicht markiert wäre. Eine Reise um die Welt, ohne Wege, ohne Transportmittel. Ein Wimpernschlag, ein Fingerdruck, schon ist Brasilien Geschichte.
    Ryu findet sich

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