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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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drängelt sich durch die Wolkenreste. Er schmückt das Feld mit dem Glanz rundgeschliffener Diamanten, deren Pracht an Mädchenknien zerplatzt.
    Sie schleicht durch die Straßen. Eine geschlagene, bucklige Zyklopin, deren rußschwarzes Schürfwundenauge beschämt zu Boden blickt.
    Der Ersatzschlüssel steckt im Blumentopf.
    Sie schält sich aus den Kleidern, findet ein Handtuch. Das Bett ist längst trocken. Bibbernd, mit blauen Lippen kriecht sie unter die Decke. Bald schläft sie wie tot.
    40.
    Die Wegstrecke zur Schule hat sich versiebenfacht. Morgens hetzen wir mit offenen Jacken und Schnürsenkeln zum Rathausplatz, um den Bus zu erwischen. In der feuchtwarmen, schweißigen Busluft packe ich Hefte und Bücher aus: Hausaufgaben ⁠…
    20 Minuten später kündigt der Fahrer den Charlottenplatz an. Hastig stopfe ich meinen Schreibkram zurück in die Tasche, eine uralte Ledermappe, die einst meinen Vater begleitete. Damals besaß sie noch zwei Schulterriemen. Heute muss ich sie unter den Arm klemmen. Henkel hat sie keinen. Um die Schnallen der schmalen Mappe schließen zu können, komme ich nicht umhin stets zwei bis drei Bücher oder Ordner zu Hause zu »vergessen« – was mich neidisch schlussfolgern lässt, dass man in den 50er- und 60er-Jahren weit weniger Lernstoff mit sich herumschleppen musste.
    Ich glaube, nach meinem Klavier ist dieses abgewetzte, an den Nähten aufgeplatzte Stück Leder mein liebster Besitz.
    Die Kunst, mir das, was mir gefällt, anzueignen, beherrsche ich wie kaum eine Zweite. Diese Fähigkeit beschränkt sich übrigens nicht allein auf Materielles. Auch Verhaltensweisen lege ich mir wie Kostüme an, wobei die Konsequenzen meiner Kostümierungen nicht immer absehbar sind. Manch ein Kostüm verwächst mit mir, wird zur zweiten Haut, andere hingegen sitzen schlecht, sind zu lang oder kurz oder eng, sodass ich sie sofort ablege, sprenge, verwerfe. Meine Neigung, ein spezielles Verhalten, das Außenstehende schon als Eigenheit meiner Person akzeptiert haben, im Laufe der Monate wieder abzulegen, führe ich dagegen auf mein unermüdliches Wachstum zurück. Jeder neue Zentimeter wirkt sich aus, verändert Bewegungsfluss und Haltung, verleiht meiner Gestik neue Nuancen und macht auch vor Sprache und Kleidung nicht halt. Mein Wachsen verlangt nach einer Weiterentwicklung aller Teile meines Selbst. Es fehlt mir in jenen Tagen also nicht an Beschäftigung ⁠…
    Für den Moment gibt es jedoch nichts weiter zu tun, als den Großteil meiner Bücher im praktischen Rucksack des Ägypters unterzubringen und an seiner Seite dem grauen Betonklotz entgegenzuhüpfen, der unsere neue Schule ist.
    Nicht alle Änderungen und Neuerungen, die das Gymnasium mit sich bringt, erscheinen mir begrüßenswert. Meinem Wunsch, allein in einer Bank zu sitzen, wurde nicht entsprochen, und so sehe ich mich den Großteil der Unterrichtsstunden mit der unangenehmen Nähe einer blassen Blondine konfrontiert, deren großes, gebogenes Riechorgan Sommer wie Winter schleimverstopft ist. Pollen, Gräser, Erkältungen – sie findet immer einen Grund, laut durch den Mund zu atmen.
    Zum Glück sitzt der Ägypter in derselben Reihe. Die anderthalb Meter Gang zwischen uns zu überbrücken, bereitet uns keinerlei Schwierigkeiten, sind wir doch aus unseren Ministrantentagen – die im Übrigen gezählt sind – weitaus größere Distanzen gewohnt. Festzustellen, dass wir uns nach sechswöchiger Trennung noch immer problemlos in unserer von heimlichen Gesten begleiteten Blicksprache verständigen können, erleichtert mir die ersten Schultage ungemein. Mit dem krokodilgrünen Zwinkern des Ägypters im Augenwinkel gelingt selbst das komplizierte Unterfangen, mein linkes Ohr gegen das geräuschvolle Atmen meiner Nebensitzerin zu versiegeln.
    Eine weitere Folge des Schulwechsels ist die Zunahme der Unterrichtsstunden. Der volle Stundenplan lässt uns nicht selten in der Dämmerung von zu Hause aufbrechen und heimkehren. Abgesehen von dem rötlich-rosa Sonnenstreifen, der morgens über den Feldern und abends über dem Wäldchen klebt, sehen wir an solchen Tagen vor allem das unangenehm kalte Neonlicht der Klassenräume.
    Die kurze Zeitspanne zwischen Vor- und Nachmittagsunterricht nutzen wir, um uns an den Tankstellen und Supermärkten, die rings um das Schulgebäude wie Pilze aus dem Boden schießen, mit genau den Lebensmitteln und Getränken zu versorgen, für die unsere Mütter nichts als Verachtung übrig haben. Ich entdecke meine Liebe

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