Nachhinein
hat sie sie noch gehalten.
Sie lässt sich von der Klaviermusik in den Hof begleiten, wo der Herbstwind zwischen die Noten fährt, sie aufspaltet und in alle Himmelsrichtungen zerstreut. Zwischen Asphalt und Bläue erstrecken sich Räume voll Nichts. Da ist kein Halt, kein Hort, kein Gefühl.
Die Zeiten, in denen die Angst aufgeregt flatternd durch ihren Körper irrte wie Schmetterlinge im Netz, sind vorbei. Sie erinnert sich gut an den schwarzen Schwarm: Tausende geflügelte Tierchen, die gegen Organe stoßen und ungezählte, zarte Schuppen verlieren. Todgeweihte mit beschädigten Schwingen die, orientierungslos und blind, durch das Dunkel ihrer Bauchhöhle taumeln, bevor sie, endgültig flugunfähig, zu Boden fallen.
Ihr Inneres – ein Falterfriedhof. Was feucht und rot und violett war, überziehen schwärzliche, schuppige Schichten. Staubige, rußige Überreste, die ersticken, begraben, verstopfen und betäuben. Sie spürt die Kadaver der Falter in ihren Adern. Lauter kleine Klumpen, die den Fluss hemmen. Alles stockt und staut.
Sie ringt sich einen Schritt ab. Die Taubheit im Innern bleibt bestehen. Das geht so nicht. Ihre Finger tasten nach dem spitzen Gegengift, dem einzig wirkungsvollen Mittel gegen diesen stumpfen Körper. Da, in der hinteren Hosentasche, wartet die Nagelschere mit ihren Klingen, Kanten und Spitzen, die Erleichterung versprechen. Bevor sie der Schere das Maul aufklappt, blickt sie sich um. Kein Mensch zu sehen. Die Spaziergänger haben sich vor Dämmerung und Nebel in die Häuser geflüchtet. Gutmütig gelbe Fensteraugen starren ins Leere. Nur das Tröpfchenmeer, das durch die Luft schwappt, weiß, was sie tut.
Der metallene Oberkiefer des Scherenschnabels gräbt sich in den weißen Bauch ihres Unterarms. Es wird warm.
Sie zieht die Klinge wie einen Pflug, formt eine heiße, tiefe Furche. Rotes quillt aus der Wunde. Saftige Laufspuren verlängern den Schnitt bis hinab zum Handgelenk. Sie atmet. Das Herz in ihrer Brust sprengt die Schuppenkruste, schlägt sich den Weg frei und pumpt, pumpt, pumpt.
Der Lichtkegel der Straßenlaterne, die gezackten Baumwipfel, die blau-weißen Rillen ihrer Jeans – plötzlich kann sie alles sehen, wird mit Augen gesegnet, die erfassen, entdecken, begreifen. Baumschatten zerfallen in Abertausende, scharf umrissene, gekerbte Nadeln, deren weißlich-bräunliche Stiele in rauen Zweigen stecken – jeder Zweig ein Scheitel im glänzenden, immergrünen Haarkleid.
Es tropft.
Sie zieht am Ärmel und verklebt das Fließen mit dem Stoff ihrer Jacke. Die Beine laufen jetzt von selbst, tragen sie von Laterne zu Laterne bis hin zum Ortsende und weiter …
Der schmale Fahrradweg liegt in der Senke unterhalb von Schallschutzmauer und Bundesstraße. Sie folgt der vom Nebel verwischten, gräulichen Spur, ertastet die grasigen Grenzen mit den Füßen. Auf ihrem Ärmel verwelkt der Blutfleck im Dämmerlicht. Sie presst die feuchte Stelle fester gegen den Leib. Dann bricht die Nacht herein. Der Fleck wird schwarz. Am Himmel verschließt ein dichtes Wolkensiegel die Gestirne.
Das Land ist ein fensterloser Keller.
Sie fühlt sich ungeschützt. Der Drang, die Arme waagerecht auszustrecken und die Luft nach Hindernissen abzutasten, wird stärker. Doch im Ärmel blutet es noch. Sie braucht die Rechte zum Pressen.
Da! Zu ihren Füßen schlängelt was! Erschrocken bleibt sie stehen, umschleicht die Form in einem großen Bogen. Zu wissen, dass es Äste sind, die dort auf dem Radweg liegen, mildert den Schrecken nicht. Wenn sie nur nicht so feige wäre. Feige, feige, feige!
Damit muss Schluss sein. Sie wird sich die Feigheit austreiben, ein für alle Mal, wird Mut und Kraft und Durchhaltevermögen demonstrieren. Noch heute Nacht wird sie beweisen, dass sie die Blutsschwester beschützen kann. Es darf ihr nichts geschehen!
Die Wunde pocht. Brennt. Juckt. Egal! Ihr Entschluss steht fest: Bis zur Burg will sie laufen, wird sie laufen, muss sie laufen. Ja. Wenn sie es auf die Burg schafft, wird alles gut. Ganz bestimmt.
Sie denkt an die dicken, mausgrauen, jahrhundertealten Mauern, an die Zinnen und den Blick über das Tal. Die Burg ist die Prüfung, die sie bestehen muss. Danach wird sie selbst der Schutzwall sein, undurchdringlich für die Blicke und Hände des Masters, wird abschirmen und abwehren, verhüten und behüten, wird Übel und Unheil fernhalten, auf dass die Blutsschwester unversehrt bleibe.
Es wird kälter.
Sie passiert ein neues Ortsschild. Hier geht die
Weitere Kostenlose Bücher