Nachhinein
Blutsschwester zur Schule. Die Stadt mit dem Gymnasium grenzt an die Stadt mit der Burg.
Lampen, lang wie Dinosaurierhälse, speien orangefarbenes Licht auf die Straßen. Sie senkt die Lider, versteckt ihre Pupillen vor den blendenden Scheinwerfern vorbeirasender Autos. Wie weit ist es noch?
Die Schultern bis an die Ohren hochgezogen betet sie sich ihr Ziel vor. Nasse Luft kriecht durch Ärmellöcher. Das Stoffhöhlenversteck, in das sich ihre Finger verkrochen haben, wird klamm und kalt. Mit gekrümmtem Rücken versenkt sie ihr Gesicht bis zur Nasenspitze im Halsausschnitt ihrer Jacke. Nur die Füße frieren nicht, schwellen und reiben und schmerzen in den engen Turnschuhen. Der Weg erscheint endlos.
Wie oft lässt sich ein Fuß vor den anderen setzen? Wie nah ist sie der Grenze, hinter der die Beine nicht weitergehen, nicht weiterkönnen?
Die Stadt gibt sich feindselig. Fest verschlossene Läden, bösartig raschelnde Gebüsche, Gruppen grölender Jugendlicher an Bushaltestellen. Zerplatzte Flaschen. Biergeruch.
Sie versucht, nicht an den Rückweg zu denken. Was zählt ist die Burg. Den Weg dorthin kennt sie von früher, erinnert sich gut: Stadtmauer, Mühle, Obertor. Dann den bewaldeten Hügel hinauf, bis zu den Zinnen. Damals war Sommer. Die Blutsschwester und sie liefen Hand in Hand voraus, die von Brauns hintendrein. Man hielt sie für Geschwister. Aus ihren Eistüten tropften dieselben Geschmackssorten.
Sie merkt, wie ihre Knie nachgeben. Ihr Schluchzen klingt erschöpft. Oh nein, sie darf jetzt nicht aufgeben! Es muss doch gut werden, endlich gut werden … Los doch, steh auf!
Schmutzige Nässe beklebt ihre Jeans mit zwei kreisrunden Flicken. Sie quält sich weiter, verflucht die schwachen Beine, die zittern und stottern und immer wieder einknicken. Wie mit zwei störrischen Zugtieren ringt sie mit ihren Gliedern um jeden Meter. Ihr Abscheu gegen die faulen Biester, die ihre Beine sein wollen, wächst mit jedem Schritt. Nichts als schlafen, ruhen und rasten wollen sie! Füße, Beine, Rumpf – ihr müder Körper hat sich gegen sie verschworen. Das Schicksal der Blutsschwester ist ihm egal. Dummes, fleischiges Ding! Wütend gibt sie sich die Sporen, treibt sich zur Eile an. Ihr Kopf allein ist es, der sie weiterlaufen lässt. Die Beine haben längst aufgegeben.
Das Parkhaus, die Kreuzung – nun ist es fast geschafft. Eine Senkrechte aus bröckelnden Mauerresten ragt vor ihr in den Nachthimmel. Dann die Mühle, seltsam geräuschlos zu dieser Stunde. Das Obertor erhellt eine kleine, gelbliche Laterne. Sie folgt dem Geruch der Blätter und findet den Hügel, wo modrig-glitschige Fäulnis den Kies mit laubbraunem Glatteis überzieht. Der Aufstieg ist ein Rutschen und Fallen, Straucheln und Fangen. Unter den Bäumen herrscht gespenstische Stille.
Sie scheint das einzige nachtaktive Wesen zu sein, lärmt und stolpert weiter. Es wird steiler. Ihr Mund befreit sich aus der Jacke, saugt gierig nach der kalten Luft. Hinter geöffneten Lippen erkalten zwei Reihen Zähne. Ihr Kopf wird heiß. Sie schwitzt. Schwitzt und schnauft.
Endlich weicht der Kies den glatten, steinernen Blöcken, deren Staffelung zu Zinnen und Aussichtsplattform führt. Noch zehn letzte Schritte, dann liegt es da: das ganze große, unendlich weite Tal. Eine schwarze Druse, angefüllt mit funkelnden Edelsteinen aus weiß, orangefarben und gelb-rot glitzerndem Licht.
Für ein Triumphgefühl fehlt ihr die Kraft. Sie sucht die Wolken nach Zeichen ab. Hat Gott sie gesehen? Ihren Mut, ihren gehaltenen Schwur, ihre Odyssee bis hier herauf? Er hat sie oft enttäuscht. Dennoch hofft sie auf seinen Beistand. Sie fühlt die Hoffnung wie einen Spreißel in ihrem Inneren festsitzen. Ein Splitter Glauben, ein Span Gottvertrauen, der schmerzt und sticht und alles entzündet, und den auch die geschickteste Pinzette nicht zu fassen bekommt.
Sie späht nach Norden. Sind das die Lichter ihres Dorfes? Der Rückweg scheint ein Ding der Unmöglichkeit … Doch hier kann sie nicht bleiben.
Bergab läuft es sich leicht. Der Hügel treibt ihre Beine ins Tal. Sie lässt sich in die Schritte fallen. Zweimal kann sie einen Sturz nicht verhindern. Ihre verschränkten Arme reagieren nicht schnell genug. Ungebremst schlägt Stein auf Steißbein. Unter den Bäumen riecht es nach Sommerresten. Sie sehnt sich nach Augusthitze, nach trockenen Kleidern und bloßen Füßen.
Das Lampenlicht im Obertor klatscht gleißend in die Tiefen ihrer großen, schwarzen
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