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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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Pupillenseen. Verglichen mit der Finsternis des Waldes erscheint die Straße absurd hell. Schilder, Markierungen, alles reflektiert.
    Sie will nicht gesehen werden, sucht die Häuserschatten. Mit Lidern und Gliedern aus Blei folgt sie der Hauptstraße.
    Der Besitzer des zweitürigen BMW 325e, Baujahr 1987, der vielleicht Kenan, vielleicht Gökhan oder Furkan heißt, kann nicht schlafen. Der Schichtwechsel macht ihm zu schaffen. Er hat es aufgegeben, sich schlaflos im Bett hin- und herzuwälzen. Stattdessen nutzt er die Zeit, um seinem Wagen etwas Auslauf zu gönnen.
    Der Mangel an Verkehr, Passanten und bewundernden Blicken stört ihn nicht, im Gegenteil. Er liebt die freien Straßen, die ausgeschalteten Ampeln, das Gefühl, Sheriff der Schlafenden, bereifter Wächter der Stadt, zu sein.
    Ausgangspunkt seiner nächtlichen Runde ist stets die Aral-Tankstelle, wo er sich mit Kippen, Kaffee und Marsriegeln eindeckt. Wenn dann der Kaffee im Haltering und die Kippe im Mund steckt, lässt er Zapfsäulen und blaues Leuchten hinter sich und folgt den Schwüngen der Waldseer Straße, welche zur Ravensburger und, hinter dem Gelb der Agip-Tankstelle, zur Gartenstraße wird. Mit 80, 90 Sachen in der Mitte der Fahrbahn durch die Stadt zu brettern, gefällt ihm besser als Autobahn. Die wechselnde Szenerie in den Seitenfenstern, wo sich vorbeifliegende Häuser, Schilder und Leuchtreklamen abwechseln, der kurvige Straßenverlauf und nicht zuletzt das Wissen, wie viel Zeit dieselbe Strecke zu den Hauptverkehrszeiten in Anspruch nimmt, verstärken das Gefühl der Geschwindigkeit, des Dahingleitens und Fliegens über den Asphalt um ein Vielfaches.
    Am Ende der Gartenstraße biegt er rechts ab, gelangt über Schussen- und Ulmer Straße auf die Umgehung, welche ihn in einem weiten, zweispurigen Bogen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zurück zum blau leuchtenden Ausgangspunkt in der Waldseer Straße führt.
    Im Kassettenschlitz steckt eine alte Live-Aufnahme von Neşet Ertaş, dessen Gesang schon seine Eltern und Großeltern geliebt haben. Die Saz des betagten Barden erfüllt den Innenraum des Wagens mit den Klängen uralter Volksweisen. Das Türkisch des jungen Mannes, der lässig mit dem Handballen lenkt, ist nicht besonders gut. Macht nichts. Die vor Kraft, Schmerz, Sehnsucht und Liebe strotzenden Lieder gehen ihm dennoch nah, berühren die empfindliche Stelle hinter seinem Brustbein, elektrisieren die schwarzbehaarten Arme.
    Es ist seine zweite Runde heute.
    In der Gartenstraße bemerkt er eine kleine, gekrümmte Gestalt die sich den Gehweg entlangschleppt. Er wirft einen Blick durchs Beifahrerfenster, dann in den Rückspiegel. Die Gestalt ist zu klein für einen Penner, zu lockig für einen Mann.
    Er tritt auf die Bremse, dreht die Musik leiser. Der zweite Blick in den Spiegel bestätigt seine Ahnung: Es ist ein Kind! Wahrscheinlich ein Mädchen. Ein Gefühl der Beunruhigung lässt ihn den Wagen wenden.
    Vier Runde Scheinwerfer rollen an ihre Seite. Als der Fahrer die Scheibe herunterkurbelt, verschwindet ihr Spiegelbild. Stattdessen taucht der schwarzhaarige Kopf eines jungen Mannes im Fenster auf. Ein ganzer Haufen Fragen prasselt auf sie ein: Ob sie Hilfe braucht, verletzt ist, sich verlaufen hat. Kopfschüttelnd bleibt sie stehen. Neben ihr verstummt der Motor. Sie hört das Schlagen einer Autotür, spürt eine Hand auf ihrer Schulter. Die Besorgnis in der Stimme des Mannes füllt ihre Augen mit Wasser. Sie spürt es heiß über die Wangen strömen.
    Seine Frage, ob er sie nach Hause fahren soll, beantwortet sie mit einem heftigen Nicken, das Tropfen von Kinn und Nase löst. Ein salziger, fast lautloser Regen, fällt in ihren Kragen. Vollkommen erschöpft sinkt sie auf den Beifahrersitz.
    Nachdem er das Mädchen nach Hause gebracht hat, fährt der junge Mann, der vielleicht Kenan, vielleicht Gökhan oder Furkan heißt, seine letzte Runde. Er hat die Anlage bis zum Anschlag aufgedreht. Der alte Barde singt von einem Diener Gottes und davon, dass irgendetwas geglückt ist. Mehr muss er nicht verstehen. Er fühlt sich gut.

TEIL 3
    44.
    1996. Fünfte Stunde: Mathematik. An der Tafel wird irgendetwas bewiesen. Die Klasse ist wunderbar ruhig. Kein Flüstern, kein Lachen, kein Geschrei. Nichts, was meine Aufmerksamkeit erregen und mich von meiner Lektüre ablenken könnte. Ich suche Seite 86. Ganz hinten, zwischen Buchblock und Rückdeckel, wo sich innerhalb der letzten vier Jahre ein ganzer Stapel loser Seiten angesammelt hat, werde

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