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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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ich schließlich fündig. Billige Taschenbücher vertragen es nicht, 10-, 15-mal gelesen und dabei an verschiedenste Orte verschleppt zu werden. Kein Wunder, dass der Inhalt meines Bücherregals im Wesentlichen aus einem zerlesenen Haufen Altpapier besteht: Der Drang, die immergleichen Romane so lange wieder und wieder zu lesen, bis ich jeden einzelnen Satz auswendig kenne, verschleißt das Gedruckte rücksichtslos, versetzt Seiten und Einbände in desolate Zustände.
    Wenn ich die Augen schließe, kann ich die Bilder der Seiten in allen Einzelteilen heraufbeschwören, wie das Gesicht eines alten Freundes. Ich erinnere mich an jeden Absatz, jedes kursiv oder in Versalien gedrucktes Wort, an Flecken und Risse, an meine Unterstreichungen und die Druckfehler. Die Gewissheit, nichts übersehen oder überlesen zu haben, beruhigt mich mehr als jede Milch mit Honig. In einem meiner Lieblingsbücher zu lesen, gleicht einem Streifzug durch die hiesigen Straßen, Wälder und Wiesen, die mir das Vertrauteste und Verlässlichste scheinen, was mir die Welt – neben meinem Klavier – zu bieten hat. Ich glaube, mein Bedürfnis nach Fixpunkten war nie größer als jetzt, da ich mitten im Strudel gewaltiger Umwälzungen stecke und innerhalb wie außerhalb meiner selbst kein Stein auf dem anderen bleibt. Allein mein Spiegelbild ⁠… An manchen Tagen könnte ich schwören, dass ich das Gesicht, das mir aus dem Glas entgegenstarrt, niemals zuvor gesehen habe. Offenbar befinde ich mich mitten in einer Metamorphose zu – ja, zu was eigentlich?
    Meine Glieder scheinen durchaus nicht nur länger, sondern auch fester, geschickter, schneller und somit rundum effektiver nutzbar zu werden, und die Brust hat sich zumindest insofern verändert, als dass ich tatsächlich nicht mehr ohne weiteres mit freiem Oberkörper schwimmen gehen würde, aber ansonsten?
    Ich löse mich von den Seiten und lasse meinen Blick über die Reihen meiner Mitschüler schweifen. Seit einiger Zeit lassen sich die Köpfe der Klassenkameraden nicht nur in Mädchen und Jungs, sympathisch und unsympathisch, dumm und clever einteilen, sondern auch in Bluter oder Nicht-Bluter. Die Periodenpest setzte ungefähr mit der Vergabe der Halbjahreszeugnisse ein, und inzwischen erhärtet sich mein Verdacht, dass ich die Einzige bin, die bislang verschont geblieben ist. Überrascht hat mich das nicht, zumal ich schon damals, als JasminCelineJustine anfing, unser Bad vollzutropfen, zu dem Schluss gelangt bin, dass ich für diese Bluterei nicht geschaffen bin. Daran hat sich nichts geändert. Der Sinn, wertvolle Säfte achtlos abzustoßen, will sich meinem Körper nicht erschließen, und da er nichts Überflüssiges produziert, muss er auch nichts absondern. Zu Verdauen und Ausscheiden, Ausschwitzen, Abhusten und Niesen sagt er »ja«, zu allem anderen »nein danke«. Er konzentriert sich wie eh und je auf die Herstellung salziger Tränen und sterilen Urins. Geschmierblutet wird nicht.
    Eigentlich sollte solch reinliches und gesundes Verhalten ein Grund zur Freude sein. Keine Ahnung, was um alles in der Welt mich dazu treibt, neuerdings häufiger als nötig die Toiletten aufzusuchen, um meine Angehörigkeit zum Kreis der Blutenden vorzutäuschen.
    Das Bedürfnis, Teil der Herde zu sein, ist neu. Grundsätzlich schätze ich dieses Bedürfnis nicht sehr, im Gegenteil. Es ist mir ausgesprochen zuwider. Andererseits ist der Drang, einem der beiden zur Auswahl stehenden Geschlechter voll und ganz angehören zu wollen, wohl nur natürlich.
    Am Ende solcher Überlegungen entscheide ich mich zumeist dafür, die Schuld an meinen Flunkereien und dem ganzen Perioden-Theater den vielen Hunderttausend Jahren Evolution sowie dem System Natur mit seinen Schwellenwerten und Entscheidungszwängen in die Schuhe zu schieben.
    Kurzer Blick auf die Uhr. Noch 15 unerträglich lange Minuten. Ich kehre zu meiner Lektüre zurück: »… Unsinn, sagte mein Vater und schöpfte tagsüber. Aber er holte das Wasser aus dem Freibad. In diesem Wasser hatten zwar vor dem Bombentag schon viele gebadet, und seitdem war es nicht mehr gewechselt worden. Laub und Asche trieben darauf, aber es war gechlort. Dies hielt mein Vater immer noch für den besten Schutz. Das sprach sich herum. Bald drängten sich nachts die Wasserholer vor der aufgebrochenen Tür des Freibads. Jeden Morgen, wenn der Vater und ich mit unseren Eimern kamen, war weniger Wasser in den Bassins. Bald war das Kinderbecken leer und im

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