Nachhinein
Richtung Notaufnahme. Türen gleiten auseinander. Das helle Neonlicht des Krankenhausflurs erfasst Vater und Kind. Endlich begreift er, was sie da vor sich hinflüstert. »Ich werd nie wieder spielen können. Nie wieder.«
Er spürt, wie ihm die Tränen in die Augen steigen, drückt seine Lippen gegen ihre Stirn. »Aber nein, nein, mein Schatz. Das wird nicht passieren«, sagt er und betet, dass es stimmt.
Dann müssen sie warten. Stundenlang. Es heißt, der Handchirurg, der sie operieren wird, sei ausgezeichnet. Ihr Schock und die betäubende Wirkung des Adrenalins lassen von Minute zu Minute mehr nach. Sie hat Schmerzen. Er kann es nicht ertragen, sie so zu sehen, eilt durch die Gänge, bittet die Schwestern um Schmerzmittel. Eine mürrische Blonde erklärt ihm, bevor man nicht wisse, ob Vollnarkose oder nicht, könne man nichts geben. Fassungslos sieht er sie im Schwesternzimmer verschwinden, wo sie sich Kaffee nachschenkt. Seine Verzweiflung verwandelt sich in Hass.
Die Tochter will wissen, wo sie sind. Er sagt es ihr.
»Wer sind die 14 Nothelfer?« fragt sie leise.
Er kann es nicht beantworten.
Später hört er die Absätze seiner Frau über den Flur klappern. Er läuft ihr entgegen. Unter ihrem Arm klemmen sein Mantel und ein Paar Schuhe. Er führt sie ans Bett der Tochter. Da erst fällt ihm der Wagen wieder ein. Er streift Schuhe und Mantel über und läuft hinaus auf den Parkplatz.
Auf dem Rückweg bemerkt er einen kleinen Wegweiser mit Messer und Gabel, Kirchturm und Kreuz. Die Krankenhauskapelle liegt gleich neben der Cafeteria. In dem fuchsbraunen Regal hinter der letzten Bankreihe liegen Gesangbücher sowie einige Broschüren und Informationsblätter. Er findet, was er sucht.
Zurück im ersten Stock rollt ihm das Bett seiner Tochter entgegen. Sie ist auf dem Weg in die Anästhesie. Er sieht seine Frau, die Bett und Schwestern in angemessenem Abstand folgt. Die mürrische Blonde kläfft ihn an. Er steht im Weg.
Die aufgeschlagene Broschüre in der rechten Hand begleitet er das Bett. Mit zitternder Stimme verliest er die Namen der 14 Heiligen: »Achatius, Ägidius, Barbara, Blasius, Christopherus …« Er kommt bis Nummer 12. Dann hat er keinen Zutritt mehr.
52.
Ich finde den Faden wieder. Da ist der Chirurg. Sein Bild bleibt unklar. Ich will nicht sehen, was er tut. Mit fiesem Grinsen zieht sich die Taubheit aus meiner Hand zurück, lässt jeden Stich ein wenig mehr pieken, als den vorhergegangenen. Ich melde mein Gefühl. OP-Schwestern und Arzt tauschen abwägende Blicke. Es sei gleich vorbei, heißt es.
Zu Tapferkeit verdammt liege ich da. Im gleißenden Weiß des Operationssaals präsentiert sich der Schmerz von allen Seiten. Selbst hinter den Lidern ist es hell. Mein Ein- und Ausatmen wird lauter, klingt scharf zwischen meinen Zähnen. Der Impuls, meine Hand vom Tisch zu ziehen, ist der stärkste, und es sind weder Mut noch Willenskraft, die mich stillhalten lassen. Allein die Angst, die gewaltige Angst vor den Konsequenzen, die eine Flucht nach sich ziehen könnte, hält mich fest.
Rückblickend wird mir klar, dass die Operation, jene Stunden unter den grellen Lampen, den Höhepunkt meines Hoffens darstellten. Die konzentrierte Atmosphäre, die sicheren Anweisungen und Handgriffe des Arztes, die gelassenen Gesichter der Schwestern – all das gestattete mir, an die Möglichkeit einer vollständigen Gesundung zu glauben.
Der Operationssaal ist eine Welt für sich. Ein steriler, ausgeleuchteter, vollkommen grauzonenfreier Ort. Man spricht dort von »gelungen« und »geglückt« und »keinerlei Komplikationen«. Man ist sich sicher.
In jener trügerischen Sicherheit liege ich, spüre mit Erstaunen den Genuss, den diese totale Auslieferung meiner Seele bereitet, und verzweifle vor Schmerz. Ein letzter Stich, dann bin ich gelungen. Man lobt mich.
Ich werde auf den Gang gerollt. Aus meinen Augen kullert was.
Zeit vergeht. Schwestern liefern Tabletten und Tabletts, beides dreimal täglich. Ich lüpfe die weiße Plastikglocke und inspiziere den Inhalt: 20 Gramm goldig verpackte Butter neben schwitzenden, orangefarbenen Käsescheiben. Das Brötchen hat seinen eigenen kleinen Teller. Um es aufzuschneiden, bräuchte man zwei Hände. Ich lasse das Messer aufs Tablett zurückklirren.
Meine Eltern verbringen jede freie Minute damit, an meinem Bett hoffnungsfrohe, zuversichtliche Gesichter zu machen. Ich wünschte, sie würden damit aufhören. Die Tatsache, dass mein Vater seit Tagen nicht in
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