Nachhinein
sterben, das Piano als Henker …
Kein einziger Gedanke an morgen würde übrig bleiben. Nur Splitter. Holz- und Zahn- und Knochensplitter.
Aller Lethargie zum Trotz raffe ich mich mehrmals täglich dazu auf, komplizierte Konstruktionen zwecks Stützung und Hochlagerung meiner verletzten Hand zu errichten. Wenn ich meinem Körper den Heilungsprozess schon, wie meine Eltern behaupten, durch einen »Mangel an Zuversicht« erschwere, so fühle ich mich doch verpflichtet, ihm jedwede »rein faktische« Unterstützung, die ihm beim Heilen nützlich sein könnte, bereitzustellen. An schmerzhaften Anweisungen hinsichtlich der Art und Weise, wie die Hand gepflegt, umsorgt und gelagert werden will, fehlt es nicht. Unablässig tickern Meldungen aus der Wunde auf mich ein.
Steif und still liege ich da, erstarre in meiner, mit Teppich ausgelegten, Wohnzimmergruft unter dem Klavier. Die minütlich aufflackernde Kombination aus Schmerz und Verlust als einziger Beweis meiner Lebendigkeit. Im Rhythmus meines durch Elend, Angst und Starre verlangsamten Herzschlags, schwingen sich Schmerzimpulse über Nervenbahnen zum Gehirn hinauf. Ich lausche dem Gepocher. Solange Takt und Ton wiederkehren, lebe ich noch.
Zuweilen ist mir, als hätte alles, was einst meine restlichen Glieder bewohnte, sein Zuhause verlassen, um gen Hand zu ziehen. Rumpf und Beine verkommen zu Geisterstädten, liegen da wie ausgestorben.
Wie und was da geschieht, in mir, mit mir, bleibt im Verborgenen. Mein Körper geht seine eigenen Wege. Mehr denn je empfinde ich meine fleischige Behausung als autarke, absolut selbstständige Organisation; ein System, getrennt und abgeschieden von meinen seelischen Nöten, das mir keinerlei Einblick gestattet. Nähere ich mich, so klopfen mir Millionen von Zellen auf die Finger. Sie wissen, was sie tun, machen das seit Jahren. Mein Ich und seine tristen, unnützen Denkereien sollen sich raushalten, werden in die Schädelschale verbannt. Zutritt für Unbefugte verboten. Am Heilungsprozess Unbeteiligte bleiben ausgeschlossen.
Ich bleibe also außen vor. Wartend.
Doch der Moment, da mir mein Körper die Ergebnisse seiner Regenerationsanstrengungen präsentieren wird, rückt näher. ER weiß, was er kann.
Ich weiß nur, was ich nicht mehr kann.
57.
Man zieht die Fäden früher als erwartet. Ängstlich beobachte ich den Pinzettenschnabel, dessen glänzende Spitzen zielsicher nach den schwarzen, knotenköpfigen Würmern in meiner Handfläche schnappen. Ein leichtes Ziehen, ein kleines Schnipp, schon hat die Schere den Knoten durchtrennt. Widerstandslos gleiten die geköpften Würmer aus meiner Haut, der silbernen Schale entgegen.
Gerade will ich fragen, was nun mit mir und meiner geflickten Hand geschehen soll, da zückt der Chirurg eine Nadel. Ohne sich mit langen Erklärungen aufzuhalten, durchsticht er den Nagel meines linken kleinen Fingers. Statt eines medizinischen Ohrsteckers mit Glitzersteinchen fädelt er einen gewöhnlichen, rot-orangefarbenen Haushaltsgummi durch das Nagelloch. Dann kürzt er den Gummi und befestigt seine losen Enden an einer Sicherheitsnadel, welche er meinem frisch verbundenen Handballen ansteckt. Sein stolzes und zugleich schelmisches Lächeln lässt mich vermuten, dass es sich bei diesem merkwürdigen Verfahren um seine eigene Erfindung handelt, und während ich noch verdutzt den Miniatur-Expander an meinem Verband beäuge, rasselt er auch schon die Bedienungsanleitung meines neuen »Trainingsgeräts« herunter.
Bislang verliefe alles ganz ausgezeichnet, behauptet er. Inwieweit meine Sehnen ihre volle Beweglichkeit zurückgewännen, liege nun ausschließlich an mir bzw. meinem »Trainingsfleiß«.
»Was ist mit Klavierspielen?«
Beim Stellen der Frage spüre ich, wie sich mein Rücken krümmt, wie ich mich wegducke, als erwarte ich anstelle einer Antwort ein paar Ohrfeigen.
»Wie schon gesagt: Das liegt an dir … daran, in welchem Maße du bereit bist, dafür zu arbeiten –«
» ICH BIN BEREIT !«, entfährt es mir, und das erschrockene Zusammenzucken der im Hintergrund werkelnden Schwester verrät, dass sich mein Enthusiasmus recht deutlich auf die Lautstärke meines Ausrufs ausgewirkt haben muss. Der Chirurg quittiert meine Bereitschaft mit zufriedenem Nicken. Dennoch versäumt er es nicht, mich auf die Konsequenzen hinzuweisen, mit denen ich im Faulheitsfalle zu rechnen hätte. Detailverliebt zeichnen seine Worte das Porträt verkürzter Sehnen, welche meine Hand Jahr für Jahr
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