Nachhinein
Verlust, zwei unterirdischen Strömen gleich, meine Brust fluten. Ein Becken, von dessen Existenz ich bislang nichts ahnte, füllt sich mit Tiefe. Weinen wäre jetzt gut. Es gelingt mir nicht.
An den darauffolgenden Tagen fängt meine Mutter JasminCelineJustine bereits auf dem Gang ab, sodass ich zu meinen Jas und Neins und dem Denk-Karussell, dessen Pferdchen mein Klavier umkreisen, zurückkehren kann.
Nachdem die Sonne sechsmal auf- und untergegangen ist, werde ich entlassen.
54.
Ich bin ein einarmiger Bandit. Verstohlen drücke ich mich in unserem Haus herum, wo es nichts zu tun und nichts zu holen gibt.
Mit Stumpf und goldener Hakenhand ließe sich der Alltag bestimmt besser bewältigen als mit dieser lästigen, mullbindenweiß verpackten Mumie am Arm. Selbst kleinste, geringfügigste Berührungen provozieren die Überreste meiner Hand zu heftigen Antworten voll schmerzhafter Deutlichkeit.
Schule als Ablenkungsmanöver ist in meinem frisch-geflickten Zustand keine Option. Von unachtsamen Klassenkameraden angerempelt und zum Aufplatzen gebracht zu werden, wäre momentan eher kontraproduktiv. Auch bin ich mir nicht sicher, ob ich den Fragen, die unweigerlich auf mich einprasseln würden, mit der nötigen Gelassenheit begegnen könnte. An Herausforderungen fehlt es mir (auch ohne Schule) weiß Gott nicht: Der bloße Anblick meiner bandagierten Linken sowie die vielen alltäglichen, normalerweise automatisch und gedankenlos ausgeführten Handlungen, welche auf Grund meiner Einhändigkeit plötzlich kaum zu bewältigende Probleme darstellen, quälen mich von früh bis spät. Zu behaupten, dass ich meine neue Aufgabe – das Erdulden permanenter Frustrationen – auch nur in Ansätzen meistere, wäre glatt gelogen.
Das Gefühl, dass ich nicht nur meine eigenen, sondern auch die Zeiger der Uhren beschädigt habe, lässt mich nicht los. Sekunden, Minuten und Stunden hinken lahm von Zahl zu Zahl. Wohin mit mir? Was tun mit all den ausgedehnten, sich bis ins Unendliche ziehenden Zeitabschnitten?
Ich drehe meine Runden durch Zimmer und Stockwerke, steige Treppen, bemühe mich krampfhaft um nie da gewesene Routen – vergebens. Letztlich kehre ich stets zurück auf die gewohnte Bahn, jenen unsichtbaren Trampelpfad, der mich zum Klavier führt. Eine magische, absolut reißfeste Bindung an das Instrument verurteilt all meine halbherzigen Ausbruchs- und Ablöseversuche von vornherein zum Scheitern. Wie ein Kettenhund hänge ich an Klaviatur und hölzernem Gehäuse. Je weiter mich Wut und Verzweiflung in die Ferne treiben, desto plötzlicher schnelle ich zurück und finde mich, ein enges Halsband aus Sehnsucht um die Kehle, auf dem Klavierhocker wieder.
Die Klappe öffnet sich von selbst. Gewohnheitsmächte führen meine Rechte bis dicht über die Tasten. Weiß und Schwarz und Glatt wecken ein Begehren in meiner Mitte. Kleine, flinke »Ich-will«-Wellen eilen Richtung Fingerspitzen, die schweben, zittern, zögern. Ich kann den Anschlag nicht verhindern.
Die Rechte krabbelt über die Tasten: ein einsamer, fünfbeiniger Käfer auf der Suche nach seiner Gefährtin. Unwillkürlich zuckt es im Verband. Die Mumie erwacht, will eingreifen, ergänzen, mittun und kann nicht, kann nichts als schmerzen.
Jetzt auch noch Tränen. Als wäre das Absondern salziger Flüssigkeiten die einzige Fähigkeit, die mir geblieben ist.
»Scheiße!« Ich ramme den Ellbogen in die Tasten. »Scheiße!!« Die Rechte flieht und bringt sich ein paar Oktaven höher in Sicherheit, während mein Ellbogen weiter auf Schwarz und Weiß eindrischt. »Scheiße, scheiße, scheiße!!«
Plötzlich liegen Hände, gesunde, kräftige Vaterhände auf meinen Schultern. Die Sitzfläche meines Hockers rotiert. Ich werde umgedreht. Hinter mir schließt sich der Deckel. Ich habe ihn gar nicht kommen hören. Dass er mich in den Arm nimmt, ändert nichts.
55.
Wenn ich nicht gehe, komme ich auch nirgends an. Nicht einmal am Klavierhocker. Meine Streifzüge durchs Haus werden seltener.
56.
Ich liege auf dem Wohnzimmerteppich, den Blick wie einen Galgenstrick um die Deckenbalken geschlungen. Dreieinhalb Meter über mir, getragen von jenen dunklen Balken, steht mein Klavier. Brächen die Balken, so würde mich das Instrument mit einem polternden, dissonanten Aufschrei unter sich begraben. Die Vorstellung dieses mir angemessen erscheinenden Abschieds von der Welt tröstet mich – ein letztes Mal auf die Absurdität des Lebens hinweisen, den Tod einer Zeichentrickfigur
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