Nachhinein
seinem Arbeits-, sondern in meinem Krankenzimmer sitzt, beweist mir, dass er in Wahrheit mit dem Schlimmsten rechnet. Er schweigt noch mehr als sonst.
Meine Mutter hingegen entflieht den Gedanken an Zukünftiges und konzentriert sich aufs Praktische. Sie hilft mir beim Waschen, bringt Bücher, stellt Blumen auf. Ihre größte Sorge gilt meiner chronischen Appetitlosigkeit.
Mein Wortschatz schrumpft in jener Woche auf wenige Jas und Neins zusammen. Der Gedanke, nie wieder Klavier spielen zu können, löscht alle anderen aus.
Ein Dasein ohne Musik. Tage, Wochen, Jahre, die ich nicht länger selbst vertone. Mein Leben als sang- und klangloser Stummfilm, durch den ich auf mein Ende zu stolpere.
Wer bin ich ohne Klavier? Ich will es nicht wissen.
Die Vorstellung, mit sieben, acht oder neun Fingern zu spielen, ekelt mich an. Verminderung, Behinderung, Demut, Akzeptanz – Worte, bei denen ich aus Bett und Haut fahren, mir Naht, Beine und Haare ausreißen will. Vier Synonyme für Machtlosigkeit, für Fesseln, für Unvermögen. Begriffe, die mein Geist genauso wenig fassen kann wie meine Hand das Frühstücksbrötchen, und die in mir nichts als NEIN , NEIN und dreimal NEIN auslösen.
Ich genieße Wut und Widerwillen, die mich beim Gedanken an eine LottaLuisaLuzia als gottergebenem Krüppel überkommen, sind dies doch die wenigen Augenblicke, in denen ich mich kräftig, entschlossen und lebendig fühle.
Mein Zorn hat Zukunft. Er ist definitiv. Um zu prognostizieren, dass ich auch morgen angesichts meiner zerstörten Hand zornig sein werde, brauche ich keinen Arzt und kein Vertrauen. An das Fortbestehen meines absoluten Unwillens, das Geschehene als »mein Schicksal« zu akzeptieren, kann ich gefahrlos glauben – so dachte ich mir das.
Falsch gedacht. Die vielen, apathisch im Bett verbrachten Krankenhausstunden erschütterten und zerrütteten schließlich meine anfänglich so grimmige Entschlossenheit. Was blieb war Verzweiflung. Und Angst.
Mein Blick macht seine Runden, wandert zwischen Tapete, Verband und Fenster umher, während die Gedanken um den erlittenen Verlust kreisen. War ich zu lange unversehrt? Ereilt mich jetzt die Summe aller Verletzungen, vor denen ich bislang verschont geblieben bin? Tausend Fragen, von denen jede eine neue gebiert.
53.
Ich bin dabei, mit Fragezeichen wie Dartpfeilen auf das Holzkreuz unter der Zimmerdecke zu zielen, als die Besuchszeit anbricht.
Es klopft.
Drei Augenpaare (Papa, Mama, ich) folgen dem Geräusch und fixieren die Tür. Nichts regt sich. Die Klinke verharrt in der Waagrechten.
Das zweite, zaghafte, schon leicht entmutigte Klopfzeichen verrät mir die Identität des unangemeldeten Besuchers, noch ehe meine Mutter ihr helles, um Optimismus bemühtes »Herein!« Richtung Gang schickt.
Eben will ich Einspruch erheben, da schieben sich schon die ersten Locken durch den Türspalt. Demonstrativ drehe ich mich weg, widme mich ganz der Landschaft vor dem Fenster, wo ein Nomadenvolk heimatloser Novemberwolken vorüberzieht und der Wind letzte Blattreste von den Bäumen fegt.
Was aus den Krankenhausdecken aufragt, ist eine Büste, geschaffen nach meinem Ebenbild. Ein geschliffenes, starres Stück Alabaster mit unbeweglichen Bernsteinaugen, das weder grüßt noch spricht noch gestikuliert.
Der Zusammenprall meiner abweisenden Schweigsamkeit und der verlegenen, verletzten Stille JasminCelineJustines lädt den Raum mit Unausgesprochenem auf. Die verzweifelte elterliche Suche nach neutralem Gesprächsstoff steigert die Anspannung, macht sie unaushaltbar. Ich muss den Mund aufmachen.
Meine Stimme wirft sich zwischen die Gesichter. Sie klingt fremd. Worte zerplatzen und füllen die Luft mit scharfkantigen Splittern, an denen sich vor allem eine schneiden soll: »Ich will, dass sie geht.«
Meiner Mutter entfährt ein erschrockenes, als Lachen getarntes Geräusch. Sie tut, als habe sie sich verhört, als könne dies nicht mein Ernst sein.
Wie ferngesteuert öffnet sich mein Mund ein weiteres Mal. »Sie soll gehen.«
»Aber …«
» RAUS !!«
Ich sprenge die kalte Alabasterkruste, spucke glühendheiße Wut: » RAUS ! RAUS ! RAUS !!«
Fassungslose Mutterhände beeilen sich, JasminCelineJustine aus dem Zimmer zu schieben. Mit einer Lautstärke, als hätten Hirn und Herz die Plätze getauscht, pocht es hinter meiner Stirn.
Von rechts streichelt mein Vater beruhigend auf meine Schulter ein. Das wirkt. Je stiller es in mir wird, desto deutlicher spüre ich, wie Trauer und
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