Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
Vom Netzwerk:
Finger ihre Trockenübungen absolvieren können, als unglaubliches Privileg.
    Von Schul- und Familienleben nehme ich kaum noch etwas wahr. Morgens und nachmittags, wenn ich an Tonfall und im Anschluss eintretender Pause der Ägypterstimme eine Frage erkenne, ringe ich mir ein paar zerstreute Antworten ab. Ansonsten gilt meine ganze Aufmerksamkeit meinen Fingern, deren Kraft- und Geschicklichkeitszuwachs ich genauestens beobachte und analysiere. Drei kleine Glieder wickeln jeden Gedanken ein. Mein Dasein ist Üben.
    JasminCelineJustine versuchte in jenen Wochen mehrmals, mit mir in Kontakt zu treten. Ich hatte jedoch keinerlei Bedürfnis danach, kein Interesse an einem Wiedersehen.
    Das Desinteresse an ihr unterschied sich kaum von dem allumfassenden Desinteresse, jener absoluten Gleichgültigkeit, welche ich meiner Umwelt entgegenbrachte.
    Meine Welt war auf die Größe einer Sehnenplatte mit fünf länglichen Auswüchsen zusammengeschrumpft. Hier, auf diesem flachen, fleischigen Planeten, in dessen Atmosphäre lediglich die verschiedenen Narbencremes vordrangen, lebte ich.
    59.
    Sie wartet an der Haltestelle. Vielleicht klappt es ja heute?
    Ihre gefalteten Hände schwitzen ein letztes Stoßgebet aus. Dann ist es so weit: Der rote Bus biegt um die Ecke beim Getränkemarkt, bremst und schmiegt sich in die graue Asphaltbucht. Aus seinen Türen ergießt sich ein bunter, ranzentragender Kinderschwall auf den Rathausplatz. Sie sucht das Gesicht der Blutsschwester, findet es auf der anderen Straßenseite und rennt los. Hat sie genickt? War das ein Gruß?
    Sie gehen nebeneinander, dicht an dicht auf dem engen Gehweg. Gut, dass sie laufen. Der Gleichschritt, eingeübt auf tausendundeinem Streifzug, macht Schweigen und Verlegenheit erträglicher.
    Wenn nur der blonde Junge nicht wäre ⁠… Dass er die Tasche der Blutsschwester tragen darf, empfindet sie als ungerecht.
    Wie geht es ihr? Wie war die Schule? Hat sie heute Nachmittag Zeit?
    Die Blutsschwester gönnt ihr keine Antwort, bleibt unbestimmt, gibt mal ein Geräusch, mal ein Schulterzucken von sich, mehr nicht.
    Wo sind ihre Augen, wo ist ihr klarer, aufmerksamer Blick geblieben? Die honigfarbene Iris mit dem schwarzen Pupillenloch flackert unruhig in ihrer Mandelform, flieht unstet von rechts nach links. Nur selten gelingt es JasminCelineJustine, so weit ins Blickfeld der Freundin vorzudringen, dass sie sie unweigerlich ansehen muss. Wenn sie dann die Lider senkt und das Gesicht abwendet, würde sie am liebsten schreien.
    Sie beobachtet die fünf unermüdlichen Finger, die links aus dem Verband der Blutsschwester hervorragen: Sie tanzen; hüpfen auf und ab, als feierten sie ihr Glück, noch einmal davongekommen zu sein.
    Der Master hat sie nicht zerstört, nein. Aber es war knapp. Viel zu knapp.
    Sie hätte sie nie in Gefahr bringen dürfen. Es tut ihr leid, unglaublich leid.
    »Bist du sehr böse auf mich?«
    Die Freundin schweigt. Gibt nichts von sich als leises Fingerklopfen. Das Klopfen springt vom dritten zum ersten, zum zweiten Finger, vom Kleinen zum Zeige-, vom Ring- zum Mittelfinger, läuft hin und her, vor und zurück, erprobt eine unendliche Vielfalt an Variationen.
    »Ich hab’ nicht gewollt, dass das passiert ⁠…«
    Stille.
    Dann dritter Finger, vierter Finger, zweiter Finger, erster Finger. Geklopfte Kombinationen. 3421 3421 4331 4231 4321 43 21 43 21 1234 3421
    »Es ⁠… es ist alles seine Schuld!«
    52121212 52121212 521212 52132213 51232321 51323231 313 313
    »Sag doch was!!«
    1234 1234 2134 5423 5432 1234 1234 5423 5423 1234 5432 5432 21
    Sie hält die Blutsschwester am Ärmel fest, wird abgeschüttelt.
    »Es tut mir leid!«
    Sie weint jetzt.
    Der blonde Junge mustert die weinende JasminCelineJustine aus kalten, krokodilgrünen Augen. »Warum lässt du sie nicht einfach in Ruhe? Siehst doch, dass sie nicht mit dir reden will!«, zischt er ihr zu.
    Der Mund der Blutsschwester wird bestätigend schmal. Mit fest aufeinandergepressten Lippen, den Blick starr geradeaus gerichtet, biegt sie in die Straße mit Tiernamen ein.
    Die Klopfzeichen auf ihrem Schenkel sind alles, aber keine Antwort.
    JasminCelineJustine tastet nach der Nagelschere in der hinteren Hosentasche, verlangsamt den Schritt, fällt zurück. Blutsschwester und Junge entfernen sich, werden kleiner und kleiner. Dann sind sie verschwunden.
    60.
    Nachmittag.
    Rechte Hand: 32 32 32 32 32 32 53 53 53 53 53 53 Linke Hand: 321 321 3121 3121 312 312 3121 3121 3121 531 531
    Rechte Hand: 12

Weitere Kostenlose Bücher