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Nachhinein

Nachhinein

Titel: Nachhinein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Kraenzler
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mehr versteifen, verkümmern und schließlich zur Kralle mutieren lassen. Pflichtbewusst weist er mich außerdem auf die Möglichkeit hin, dass trotz Trainingsfleißes »Beschwerden« zurückbleiben könnten, die man aber eventuell durch eine erneute Operation beheben könnte. Schreckensvisionen verheeren die Helle in meinem Gesicht. Meine Schultern sinken.
    Der Chirurg, dem mein Rückfall in die Mutlosigkeit offenbar nicht entgeht, beeilt sich, zu seinem Lächeln zurückzukehren. »Streck mal den Finger!«, fordert er.
    Unter Aufwendung all meiner Kräfte ziehe ich den Gummi straff.
    »Na also! Klappt doch schon ganz gut! Genau diese Bewegung machst du von jetzt an, wann immer möglich! Dann kann eigentlich nichts schiefgehen ⁠…«
    Damit ist mein Termin beendet. Er begleitet mir zur Tür. Mit einem zuversichtlichen »In spätestens einem Monat spielt sie wieder« werde ich meinen Eltern übergeben, deren Jubilieren jeden »Hosanna« schmetternden Kirchenchor in den Schatten stellt.
    Ich hingegen bin zu beschäftigt, um mich zu freuen. Hochkonzentriert versuche ich alles, was mir an Energien zur Verfügung steht, in meine Hand und in diese eine Bewegung fließen zu lassen, welche mir die Rückkehr ans Klavier ermöglichen wird: Beugen. Strecken. Beugen. Strecken.
    Am darauffolgenden Morgen ist alles anders. Nicht nur, dass ich Tagesanbruch, Licht und Vogelkonzert freudig begrüße, die Decken abwerfe und mich mit Leichtigkeit über die Bettkante schwinge, nein, da ist noch mehr ⁠…
    Was mehr ist, ist die Aussicht auf mein Meer.
    Der Glaube an große Fahrten über klingende Ozeane, deren an- und abschwellende Melodien gegen meine Trommelfelle wogen, ist in mich zurückgekehrt. Die Übergabe der Verantwortung aus Chirurgen- und Schicksalshänden an mich und meinen Willen hat Funken geschlagen, ein inneres Feuer entfacht.
    Der Wind erledigt den Rest. Vergangene Nacht trug er die Flammen bis in die letzten Winkel meiner Seele. Als ich erwache, brennt alles lichterloh. Mein Vorsatz, das Unmögliche möglich zu machen, versengt meine Zweifel.
    Die Wiederauferstehung meines Mutes lässt meine Eltern aufatmen. Sorgenfalten glätten sich.
    Es ist, als stünde ein verstecktes Fenster offen. Ein Luftzug Lebendigkeit fährt durch alle Zimmer. Wiewohl sich draußen die Nächte verlängern, Bäume entblättern und fallende Temperaturen die Zugvögel gen Süden treiben, bricht hinter den weißen Wänden unseres Hauses der Frühling aus. Die Last der Tage schmilzt. Wir schweben durch die Stockwerke.
    Mein Vater, froh über meine neue Empfänglichkeit für Beistand und Zuspruch, nutzt diesen ersten Morgen, um mir eine Nachricht neben die Müslischüssel zu legen. Ich ziehe an dem zum Lesezeichen umfunktionierten Löffel und schlage das Buch auf. Zwei mit neongelbem Textmarker hervorgehobene Zeilen springen mir entgegen: »Klavier spielt man mit dem Kopf, nicht mit den Händen.« Glenn Gould.
    Unwillkürlich schieben sich meine Mundwinkel Richtung Ohren. Sofort lege ich den Kopf in den Nacken, forme die Hände zum Trichter (eine Bewegung, welche die Linke verhältnismäßig leicht meistert) und brülle zum Arbeitszimmer hinauf: »Trotzdem kein Fehler, wenn man welche hat!!«
    Und zum ersten Mal seit langer, viel zu langer Zeit bin ich mir tatsächlich sicher, dass ich meine Hände und Finger weiterhin besitzen und für das einsetzen werde, was mir das Liebste ist. Genussvoll lasse ich mich von jener wiedererlangten Gewissheit durchtränken, sauge mich voll, wie ein Cornflake mit Milch. Mut macht hungrig. Bald ist die Schüssel leer.
    58.
    Gottvater thront auf seinem Regiestuhl und gibt sich alttestamentarisch: Der Weg zurück zu einer voll funktionstüchtigen Hand kann ihm offenbar nicht steinig genug sein. Seinem eingeborenen Sohn verbietet er strengstens jegliches wundersame Eingreifen. Nicht eine Minute soll mir geschenkt werden. Ich fühle mich dem Volk Israel so nahe wie nie.
    Nachdem mein Finger wochenlang am Gummi gezogen, sich gebeugt und gestreckt und gequält hat, wird es Zeit für die ersten klavierspezifischen Fingerübungen.
    Noch vor wenigen Monaten hätte ich es für ausgeschlossen gehalten, dass man sich solch öden Übungen mit derartigem Feuereifer widmen kann. Geräuschlos imaginäre Tasten anzuschlagen erschien mir der Gipfel der Langeweile zu sein. Heute dagegen empfinde ich jede flache Unterlage – von Schenkeln, Tischplatten und Sofalehnen bis hin zu Bussitzen und Treppengeländern – auf der meine

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