Nachkriegskinder
Manchmal, während des Essens in der großen Küche, platzte ihm der Kragen. Dann forderte er Vera auf, in den Nebenraum zu gehen. An die Auslöser seiner Wut kann sie sich nicht erinnern – wohl aber, dass es ihm gut tat, seine Tochter geschlagen zu haben. »Für so etwas haben Kinder ja feine Antennen. »Er hat sich entladen und damit entlastet«, stellt Vera Christen nüchtern fest. »Ich bin mir sicher, das ganze Ritual hatte |50| eine sexuelle Komponente.« Danach gingen sie in die Küche zurück, und die Mutter fragte ihre Tochter: »Und wer soll dir denn jetzt ein Butterbrot schmieren?« Das Kind erwiderte: »Der liebe Papi.« Szenen dieser Art wurden später als Familienanekdoten erzählt, als Beweis dafür, wie wertvoll und förderlich die Schläge gewesen waren. Vera vermutet, im Alter zwischen acht und zehn Jahren häufiger auf diese Weise bestraft worden zu sein – für ein Vergehen, das sie nicht verstand. »Ich habe nur gedacht. Warum tut er das? Ich bin doch schon so groß.«
Vera Christen hatte mich nach einer Lesung auf der Straße angesprochen, als ich auf dem Weg zum Bahnhof war. Vor mir stand eine hübsche Frau um die fünfzig, ein gewinnendes Lächeln, dunkle, hochgesteckte Haare. Ihre Sprache verriet die hessische Herkunft. Während sie mich zum Bahnhof begleitete, erfuhr ich, sie sei in einer mittelgroßen Stadt aufgewachsen. Ihr Vater habe dort nach dem Krieg eine Gärtnerei aufgebaut, die sich in den siebziger Jahren zu einem lukrativen Garten-Center entwickelt hatte.
Dann erzählte sie mir von ihren Patienten, von alten Menschen mit Kriegserfahrungen. Die Ärztin sprach so lebendig und unbefangen, wie ich es bei dieser Thematik nur selten im kirchlichen Milieu gehört habe. Denn soviel verstand ich schon während unserer ersten Begegnung: Es bedeutete ihr viel, in christlich geprägten Einrichtungen der Altenpflege zu arbeiten und nicht bei sogenannten weltlichen Trägern. Als wir uns zum zweiten Mal trafen, zu einem verabredeten Gespräch, erfuhr ich eine Geschichte, die ich hier mit Vera Christens eigenen Worten wiedergeben möchte:
✎ Ich habe mal mit einer älteren Dame gesprochen. Sie sagte: Ich bin müde, es ist genug und ich will jetzt gehen, ich will jetzt wirklich sterben, aber ich krieg das nicht hin. Und da hatte ich eine Idee und sagte: Wissen Sie was? Sie haben es sehr hart gehabt im |51| Krieg, und Sie mussten sehr viel Energie aufwenden und Ihr Überlebensinstinkt ist dabei sehr stark geworden, habe ich ihr gesagt. Sie können sich den vorstellen wie einen Wachhund, der hat auf Sie aufgepasst, und der sitzt da jetzt immer noch da und knurrt, wenn der Tod sich Ihnen nähert. Und dem müssen Sie jetzt sagen: Es ist jetzt genug, du hast wunderbar auf mich aufgepasst, aber jetzt ist es genug. Leg dich hin und lass mich gehen. – Dann sprachen wir noch über etwas anderes, und plötzlich sagt sie: Ich glaube, ich kann das! Was? Das mit dem Hund und dem gut zureden. Und dann, drei Tage später, ist die ältere Dame friedlich gestorben. ✎
In dieser Weise erzählt mir die Ärztin aus ihrem Berufsalltag und von ihren häufigen Begegnungen mit Menschen, die am Lebensende von den Folgen des Krieges eingeholt werden. Mich erstaunt bei ihren Schilderungen, wie gut sie sich einfühlen kann und wie kreativ sie dabei ist. Auf die Idee mit dem Hund muss man erst mal kommen … Seit wann, frage ich sie, achtet sie darauf, ob Patienten durch die Kriegs- und NS-Vergangenheit belastet sein könnten? Das habe sie als Tochter eines Kriegsvaters schon früh gewusst, erwidert sie, aber es sei gefühlsmäßig nicht in ihr verankert gewesen.
In der Gedenkstätte Yad Vashem
Mit 19 Jahren reiste sie nach Israel und besuchte dort die Gedenkstätte Yad Vashem. Der Busfahrer, der die Besuchergruppe aus Deutschland betreute, war in Auschwitz gewesen und hatte von seinem Überleben im Konzentrationslager berichtet. Er hatte auch gesagt: »Ihr seid die Nachkommen, euch trifft keine Schuld.« Vera kannte die Fakten des Holocaust aus dem Schulunterricht und aus den Medien. Das Wissen hatte bei ihr Entsetzen ausgelöst, aber noch kein wirkliches Mitgefühl für die Opfer. Das wurde |52| erst durch die Begegnung mit dem Zeitzeugen von Auschwitz geweckt.
Dreißig Jahre später entdeckte sie ihre Empathie für Kriegstraumatisierte. Gleichzeitig wurde ihr bewusst: Dieser Krieg steckt ja auch noch in mir! Vera berichtet: »Als ich 2004 den Film ›Der Untergang‹ sah, begriff ich plötzlich, wie
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