Nachkriegskinder
sehr schlecht, weil ich übergewichtig war. Aber wenn ich mit meinen Problemen kam, fand sie ihre Sorgen wichtiger und dann wurde nur darüber geredet.« Die Mutter ordnete sich ihrem Mann unter und schien damit einverstanden zu sein. Ein Merksatz, den sie an ihre Tochter weitergab, lautete: »Mach einen Mann glücklich, dann geht es dir gut.« Tatsächlich nahmen sich die Eltern häufig in den Arm, sie zeigten ihre Zärtlichkeit füreinander. Einmal, als sie schon ältere Leute waren, fragte die Mutter den Vater: »Bin ich eigentlich die gewesen, nach der du gesucht hast?« Und er antwortete: »Nein, aber die, aus der ich das machen konnte.« Als Witwe spricht Veras Mutter heute gern von ihrer »unglaublich glücklichen Ehe«. Sie vergöttert ihren verstorbenen Mann. Überall im Haus sind Fotos von ihm, 17 Stück hat ihre Tochter gezählt.
Mit Mitte sechzig war Bernhard Klemms Lebenskraft aufgebraucht. Vera, seine Älteste, spürte, dass der Todkranke durch Unerledigtes aus seiner Kriegszeit belastet war, und es kam sogar eine Bestätigung von ihrem Vater, eben der Satz: »Ich habe ein glückliches, erfülltes Leben gehabt, aber das, was ich im Krieg erlebt habe, damit bin ich nicht fertig.« Sie wagte nicht nachzufragen. |55| Stattdessen schenkte sie ihm ein Buch, Titel: »Sieh nach den Sternen, gib acht auf die Gassen«, in dem der Pfarrer und Autor Jörg Zink seine Kriegserfahrungen schildert. Ihr Vater las darin und zeigte Freude darüber, weil er sich wahrgenommen sah. Konkretes zum Krieg äußerte er nicht mehr. Er starb friedlich, zu Hause, umgeben von seiner Familie.
Wenige Tage vor seinem Tod hatte er seine Tochter mit dem Satz überrascht: »Du bist mir immer so vertraut gewesen.« Doch Vera reagierte nicht gerührt, auch nicht dankbar, sondern hatte Mühe, ihre Fassungslosigkeit zu verbergen. Es gelang ihr gerade noch eine heftige Erwiderung hinunterzuschlucken, nämlich diese: »Du kennst mich doch gar nicht! Du weißt doch gar nicht, wer ich bin!« An diesem Punkt unseres Gesprächs steht Vera Christen vom Tisch auf und öffnet das Fenster. Als sie zurückkommt, erklärt sie mir, sie müsse ehrlicherweise hinzufügen, sie habe, als ihr Vater starb, nicht einmal selbst gewusst, wer sie sei. Damals befand sie sich am Anfang eines Prozesses, den man vielleicht als ein langsames Sich-selbst-kennen-lernen bezeichnen könnte. Nach dem Suizid ihrer schwer depressiven Freundin, nach dem bereits erwähnten Wendepunkt, war sie einer Meditationslehrerin begegnet, in der sie eine kompetente und gleichzeitig behutsame Begleiterin fand.
Hatte Vera Christen bis dahin ihren Alltag als eine endlose Kette von Pflichten erlebt, lernte sie nun, Schritt für Schritt, besser auf sich zu achten. Sie begann damit, sich Pausen zu gönnen, gutes Essen zu genießen, ausreichend Urlaub zu machen und – womöglich die folgenreichste Umstellung – nicht mehr automatisch jedes Mal Ja zu sagen, wenn jemand sie privat oder beruflich einspannen wollte. Rückblickend kann sie nur staunen, wie grundlegend sich ihr Lebensgefühl verändert hat. Unter depressiven Verstimmungen leidet sie nur noch selten. Wenn sie heute restlos erschöpft ist, dann weiß sie, dass sie viel – häufig auch zu viel – gearbeitet hat, aber es bestimmt sie nicht mehr die Angst, sie könne in ein schwarzes Loch fallen. Hatte sie sich früher von der hektischen |56| Arbeit in einer Klinik aussaugen lassen, die ihr kaum Zeit ließ, ihre Patienten anders als als Krankheitsfälle wahrzunehmen, betreut sie heute die Bewohner mehrerer Alten- und Pflegeheime, wo sie in der zeitlichen Gestaltung ihrer Aufgaben völlig frei ist. Letztlich, glaubt Vera Christen, habe ihre Phase der bewussten Selbstentwicklung zwanzig Jahre gedauert. Dabei habe sie sich immer wieder gehäutet, Schicht um Schicht. Ihre Meditationslehrerin habe ihr beigestanden, als es darum ging, »in den Keller der Kindheit« hinabzusteigen.
Ihre Erinnerungen nahmen zu, sie wurden deutlicher. Eines Tages riss ein Vorhang. Plötzlich gab ihr Gedächtnis etwas preis, was tief in ihr vergraben gewesen sein muss: Sie war von ihrem Großvater sexuell missbraucht worden. Das sechsjährige Mädchen hatte sich nicht getraut seinen Eltern davon zu erzählen. Die Erkenntnis 40 Jahre später traf ihren Körper mit großer Wucht. Sie bekam Schüttelfrost und Unterleibskrämpfe. Zwei Wochen war sie krank. Jahre später erkannte Vera Christen: »Die Gewalt an Kindern, Missbrauch und Alkoholismus – dem allen hat
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