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Nachkriegskinder

Nachkriegskinder

Titel: Nachkriegskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Bode
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reagiert nicht, spritzt sich Opiate, trinkt, nimmt Schlafmittel. Er hat keine Meinung, keinen beruflichen Ehrgeiz, kann nur mit Mühe oder gar keinen Arbeitsplatz behalten. Wenn er einmal etwas sagt oder sich in irgendeiner Weise auf das Kind bezieht, ist dieses verblüfft, als sei es in ein Sterntaler-Märchen geraten.« 15
    So war der Vater von Reinhard Pahle* nicht. Er gehörte zum Typus der aufbrausenden Väter. Seinen Sohn lernte ich kennen, als ich im Frühjahr 2009 für eine Hörfunksendung in einer psychosomatischen Klinik recherchierte. Im Garten, auf einer Bank, kam ich ins Gespräch mit einem Mann von Mitte fünfzig, der sich als Patient zu erkennen gab. Seine Stimme klang matt, sein Körper wirkte spannungslos, was mich irritierte, weil er einen Trainingsanzug trug. Als ich ihn fragte, ob er seinen Sport noch vor oder schon hinter sich habe, winkte er müde ab und meinte: »Alles Tarnung«. Seine Kraft beim Joggen reiche genau für fünf Minuten. In der Klinik hätten sie ihm das Walken empfohlen. Hier schaute er mich verblüffend wach an und sagte: »Ich finde, beim Walken sieht man bescheuert aus, besonders als Mann. Was meinen Sie?« Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete, vielleicht gab ich ihm sogar Recht. Daraufhin kam er auf sein Burnout und seine Depressionen zu sprechen. Er tat es freimütig, gelegentlich mit Galgenhumor, was aber nicht verdecken konnte: Die letzten drei Jahre waren für ihn eine Zeit der wachsenden Verzweiflung gewesen, daher die Entscheidung, in eine Klinik zu gehen.

|127| Ein Lehrer, der seine Schulkinder liebt
    Je länger wir uns unterhielten, desto munterer wurde er, sein verschattetes Gesicht hellte sich auf. Als ich sagte, ich hätte ihn jünger geschätzt als er in Wahrheit sei, freute er sich und verriet eines seiner Rezepte: Ab einem bestimmten Alter dürfe man als Mann nicht so dumm sein, sich vor den Spiegel zu stellen, um mit Hilfe eines weiteren Spiegels seinen Hinterkopf zu betrachten. Er fahre gut damit. Solange er seine Glatze nicht sehe, existiere sie nicht. Auf seinem Gesicht erschien ein verschmitztes Lächeln, als habe er mir von einem Streich erzählt. Er war verheiratet, kinderlos, von Beruf Grundschullehrer. Als ich ihn fragte, ob er einen Zusammenhang sähe zwischen seiner anstrengenden Arbeit und der Depression und ob er den Vorruhestand herbeisehne, fragte er zurück, wie ich denn darauf käme. Er liebe seine Arbeit, er liebe Kinder. »Ohne die Kinder hätte mich die Schwermut schon viel eher gepackt«, sagte er mit Nachdruck. Es kam mir so vor, als wechsele er im Lauf des Gesprächs hin und her zwischen zwei Personen, einem verunsicherten Jugendlichen und einem entspannten Erwachsenen.
    Schließlich stellte auch er Fragen. Er wollte etwas über meine Arbeit erfahren. Als ich ihm von meinem Buch über die deutschen Kriegskinder berichtete, entzog er mir schlagartig sein Wohlwollen. Er reagierte heftig, er sagte, die Thematik würde von den Medien aufgebauscht, das mache ihn misstrauisch. Wir als die Nachkommen von Hitlerdeutschland sollten uns um die deutsche Schuld kümmern. Er zeigte sich fast verärgert, als ich ihm widersprach. Stille trat ein, und ich fragte mich, ob damit unser Gespräch beendet sei.
    Dann erzählte er mir, sein Psychotherapeut hier in der Klinik habe ihm nahe gelegt, er solle versuchen, über Archive etwas über die NS-Vergangenheit seines Vaters herauszufinden. Was ich denn davon hielte. Ich sagte, mehr zu wissen sei immer besser als das, was uns das Schweigen unserer Väter hinterlassen habe und |128| wünschte ihm alles Gute für seine Nachforschungen. Die Antwort brachte mir offenbar Pluspunkte ein, denn sein Misstrauen schwand. Ich erfuhr, sein Vater habe sich umgebracht, als er selbst 15 Jahre alt gewesen sei. – Was soll man darauf sagen? Was sind die passenden Worte? Wir schwiegen erneut, und schließlich wagte ich die Frage: »Befürchten Sie, Ihr Vater könne ein schlimmer Nazi gewesen sein?« Und er rief: »Was denn sonst? Nennen Sie mir eine größere Angst in unserer Generation! Das steckt doch ganz tief!«
    Am Ende unseres Gesprächs fragte ich, ob ich ihn ein halbes Jahr später anrufen dürfe, um die Fortsetzung zu erfahren und er willigte ein. Nach dem Abendessen, in der Dämmerung, begegnete ich ihm noch einmal auf dem Gelände. Er grüßte nur kurz, blickte zu Boden. Kraftlos und abweisend saß er auf seiner Bank. Ich hätte es als aufdringlich gefunden, mich zu ihm zu setzen. Also grüßte ich zurück

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