Nachkriegskinder
und ging weiter.
Wiedersehen im November
Mitte November besuchte ich ihn. Er und seine Frau bewohnen in der Lüneburger Heide ein altes Backsteinhaus. Auffällig kleine Fenster, Moos auf dem Ziegeldach, davor zwei Kastanien mit mächtigen Kronen, jetzt fast entlaubt. Die Tür ist von zwei großen Rosenstöcken eingerahmt, weiß und rot, die letzten Blüten. Schneeweißchen und Rosenrot. Kein Wunder, dass mir dieses Märchen einfällt, denn der ganze Ort hat etwas Verwunschenes und auch Verschlossenes. Niemand öffnet die Tür. Ich gehe um das Haus herum und entdecke einen in die Hecke geschnittenen Durchgang, eng und niedrig, ich muss in die Knie gehen, um hinten in den Garten zu gelangen. Reinhard Pahle ist ein zierlicher Mann. Da steht er unter Birken und hakt das letzte Herbstlaub zusammen, er hört mich nicht kommen. Wieder trägt er seinen Trainingsanzug. Als er mich endlich wahrnimmt, wirft er zur Begrüßung die Laubharke in die Luft. Wahrhaftig, er strahlt. Schon |129| am Telefon hatte er mir von einer recht stabilen Seelenlage berichtet; manchmal habe er noch Stimmungseinbrüche, aber im Vergleich zu früher seien es »Depressiönchen«.
Es ist kühl im Garten. Seinen Vorschlag, ins Haus zu gehen, nehme ich gern an. Dort brennt ein Kaminfeuer, selbstgebackener Kuchen steht auf dem Tisch. Während er Tee kocht, erzählt er mir von seinem Besuch im Berliner Document Center. Der Name seines Vaters sei in den Akten über NS-Verbrechen nicht aufgetaucht, erfahre ich, also sei er doch nur Mitläufer gewesen. Dann bereitet mich Reinhard Pahle darauf vor, unser Gespräch könne vielleicht nicht allzu ergiebig ausfallen, denn seine Kindheitserinnerungen begännen erst mit acht oder neun Jahren. Er beschreibt einen Vater, der morgens mit dem Rad zur Arbeit fährt, oben der Hut, unten die Hosenklammern, der zum Mittagessen heimkommt, sich danach eine halbe Stunde hinlegt – die Kinder müssen leise sein! – und pünktlich wieder ins Büro aufbricht. Gegen Abend kommt er zurück, geht in den Garten, dort kann er umschalten; seine Kinder dürfen ihn bei der Gartenarbeit nicht stören.
Ein Mann mit starkem Willen und schwachen Nerven
Karl-Ernst Pahle*, 1922 geboren, hatte sich nach dem Krieg zum Büroleiter einer Kreisbehörde im Westen Niedersachsens hochgearbeitet. Er war das, was man einen treusorgenden Familienvater nennt. Seine fünf Kinder sollten keine Not leiden, sie sollten im eigenen Haus aufwachsen, sie sollten Abitur machen. Als Patriarch gab er die Regeln vor, an die seine Familie sich zu halten hatte. Sein Sohn beschreibt ihn als einen Mann mit starkem Willen und schwachen Nerven. Am Wochenende, wenn die Familie einen Fahrradausflug machte, gab er die Devise aus: Wir sind eine große Familie, wir fahren auf der Landstraße zu zweit nebeneinander.
»Manchmal sind wir 20 Kilometer gefahren«, erzählt Reinhard. »Da musste man als Kind ordentlich strampeln.« Beim Abendessen |130| waren die Kleinsten in der Familie übermüdet und häufig endete ein schöner Tag damit, dass einem gereizten Vater der Kragen platzte. Das Weinen und Gequengel von Kleinkindern konnte er überhaupt nicht ertragen. Manchmal drohte er: »Ich schieb die gleich in die kalte Waschküche.« Für die Mutter eine deutliche und berechtigte Aufforderung, endlich Ruhe zu schaffen. Sie stellte das Wort ihres Mannes nie in Frage. »Einer muss ja bestimmen, wo es lang geht«, lautete ihre Einstellung. Damit war sie voll und ganz einverstanden, nicht aber, wenn er plötzlich vom Mittagstisch aufsprang und rief: »Ich häng mich noch mal auf!« Da meinte seine Frau: »Karl-Ernst, das darfst du doch vor den Kindern nicht sagen!«
Sie war 19, er schon 33 Jahre alt gewesen, als sie heirateten. Sie dachte: Er kennt die Welt, er wird gut für mich sorgen. Er wurde ihr Beschützer. Später erzählte sie gern, wie Karl-Ernst sie in den Arm genommen und »Ach, mein Mädel« gesagt hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon ein komplettes Leben hinter sich – fünf Jahre deutsche Wehrmacht als Panzerjäger, fünf Jahre russische Gefangenschaft, wo er mit zwei Fluchtversuchen scheiterte.
Er litt unter Alpträumen, auch unter Ängsten, die gelegentlich cholerische Anfälle auslösten. Seit den fünfziger Jahren fuhr er regelmäßig zur Kur. Einmal wurde er in einem Sanatorium behandelt. Der Begriff psychosomatische Klinik war damals noch nicht geläufig. »Er hat regelmäßig Valium und Librium genommen«, berichtet sein Sohn Reinhard. »Die
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