Nachkriegskinder
meinem Leben.«
Selbstmord mit 82 Jahren
Ich bitte ihn, mir die Ehe seiner Eltern zu beschreiben, und er schildert folgende Situation: Die Mutter ist im Krankenhaus, alle im Zimmer haben am Sonntag Besuch – nur sie nicht, denn der Vater ist lieber auf den Fußballplatz gegangen. Seine Grundhaltung: immer auf der Flucht, vor allem vor unangenehmen Dingen, zum Beispiel Krankheit in der Familie. »Flucht war typisch |122| für ihn«, wiederholt der Sohn, »bis hin zu seinem Selbstmord mit 82 Jahren. Als ich davon erfuhr, habe ich spontan gesagt: Das passt zu ihm!«
Der Krieg hatte Vater und Mutter zusammengeführt, genauer gesagt, der Tod von Mutters älterem Bruder. Der war in derselben Luftwaffeneinheit wie der Vater gewesen, und nachdem der Bruder gefallen war, hatte Josef Holdt sich bereiterklärt, per Brief mit der Familie Kontakt aufzunehmen. Er war daraufhin eingeladen worden, und so hatten sich Mutter und Vater kennen gelernt. Manfred Holdt weiß kaum etwas über die Kriegsjahre seines Vaters, nichts über Einsatzorte, Verletzungen, nichts über seinen Rang. »Er war in Russland. Und natürlich habe ich mir überlegt: Was macht das mit einem – sechs Jahre in diesem Krieg, von Anfang bis zum Ende!« Ich frage ihn, wie sein Vater auf die Wehrmachtsausstellung reagiert hat. Der Sohn weiß auch das nicht. »Diese Auseinandersetzung, was habt ihr als Soldaten damals gemacht, die ist bei uns nicht gelaufen«, erklärt er. »Ich weiß, was das angeht, auch nichts von meinen Geschwistern. Von meiner Mutter hörte ich, der Vater habe einmal gesagt: ›Ich hab mal einen Hasen erschossen‹.«
Manfred Holdt hat die gleichen Fragen wie so viele Männer seines Alters. Wer war mein Vater? Wo war er, wenn er geistig abwesend war – wo war er, während er sich mit seiner Familie in einem Raum aufhielt? An was dachte er? Mit welchen Gedanken ist er aufgewacht, mit welchen Bildern ist er eingeschlafen?
»Als ich bei der Bundeswehr war«, erinnert er sich, »da hat mir der Vater eine Art Gedicht geschrieben, dem Inhalt nach: Militär ist so öde, keine Frauen in der Nähe … Das war eine ganz neue Seite an ihm.« Doch der Sohn reagiert nicht darauf, er war dem Vater gegenüber voller Ablehnung. Erst viele Jahre später fragte er sich, ob hier vielleicht ein Anknüpfungspunkt gewesen wäre, um den Vater auf seine Wehrmachtszeit anzusprechen und ganz allgemein den Kontakt zu verbessern. Heute hält Manfred Holdt eine Kriegstraumatisierung für »nicht unwahrscheinlich«, wie er |123| sich ausdrückt, denn: »Etwas wird er ja mit Sicherheit mitgekriegt haben, auch wenn er in seinem Funkwagen nicht geschossen haben sollte.«
Niemand mehr da, den man fragen könnte
Heute lebt niemand mehr in der Familie, den er fragen könnte. Allerdings glaubt er auch nicht, dass von seinem Vater, direkt auf den Krieg angesprochen, eine erhellende Auskunft gekommen wäre. »Mit ihm konnte man sich eigentlich nicht unterhalten – mein Bruder sagt das auch –, man konnte nicht ernst mit ihm reden. Entweder er gab Albernheiten von sich oder er hat uns Kinder ausgeschimpft, oder seine Frau. Aber dass man sich hinsetzt und sich ernsthaft unterhält, etwas erörtert, das gab es nicht. Er konnte mit anderen Meinungen als seiner eigenen nur schwer umgehen.« Auf der anderen Seite, fügt der Sohn hinzu, seien seine Eltern kulturell interessiert gewesen, sie hätten Zugfahrten in die Kreisstadt zu Veranstaltungen nicht gescheut und sogar ein Theaterabonnement gehabt. Es war ihnen wichtig, dass ihre Kinder Freude am Lesen entwickelten, also wurden ihnen die damals so beliebten »Schneiderbücher« geschenkt und Abenteuergeschichten wie die Fünf-Freunde-Reihe von Enid Blyton.
Manfred Holdt entstammt einer Familie, die, was den Rahmen anging, eine ausgesprochen glückliche Familie hätte sein können: ein Haus in ländlicher Umgebung, drei Generationen unter einem Dach, das Geld nicht üppig, aber doch ausreichend, drei gesunde Kinder, gute Bildungschancen, ein Aufwachsen in Frieden und Demokratie. Stattdessen schilderte er mir Ungereimtheiten, Spannung, Sprachlosigkeit, niedergedrückte Stimmung, Beziehungslosigkeit, Einsamkeit der einzelnen Familienmitglieder.
Nur einer der Erwachsenen war anders, der bereits erwähnte Großvater. Wenn er das Haus verlassen hatte, bei Ausflügen zum Beispiel, zeigte er eine leichte, lebensfrohe Seite. Nie kam er von seinen Messebesuchen heim, ohne für seine Enkel passende Mitbringsel |124| dabei zu haben. Er
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