Nachkriegskinder
Tablettenröhrchen sind mir sehr vertraut. Er war medikamentenabhängig.« Im Ort kannte man ihn als vorbildlichen Familienvater, aber man wusste auch von seinen Zuständen und woher sie kamen. »Ein Heimkehrer«, hieß es mitfühlend, »der hat viel durchgemacht.«
Reinhards Mutter hatte schnell verstanden, dass nicht nur ihr Mann sie beschützte, indem er die große Familie gut versorgte, sondern dass umgekehrt auch sie ihren Mann schützte, indem sie Kinderlärm und Kindernöte möglichst von ihm fern hielt. Sie forderte nie: »Das musst du aushalten« oder »Du musst dich ändern«. |131| Sie wusste, wie stressanfällig er war und wie sehr er seine Ruhe brauchte, und so hielt sie pragmatisch daran fest: »So ist er eben.«
Reinhard Pahle, geboren 1954, war das zweitjüngste Kind in der Familie. Zwischen ihm und seinen zwei Brüdern herrschte viel Spannung und Konkurrenz. »Wir bekamen ja so wenig Aufmerksamkeit von den Eltern«, erläutert er. »Es war auf keinen Fall genug, da neidete man den anderen alles.«
Sein Vater – das sei ihm heute klar – habe nicht gewusst, was man Kindern abverlangen könne und was nicht, berichtet Reinhard. Zum Beispiel sei einem Bruder das Essen regelrecht reingezwungen worden. Bis heute sei dieser Bruder nicht gut auf den Vater zu sprechen, vor allem, weil der ihn oft wegen schlechter Schulnoten drangsaliert habe. Begründung: »Der Junge kann viel mehr, der will bloß nicht.« Reinhard dagegen war ein guter Schüler. Die Eltern sagten: »Guckt euch Reinhard an, wie fleißig er in der Schule ist«, und ignorierten den Neid, den sie damit unter den Geschwistern entfachten. Es kommt kein Frieden dabei heraus, wenn Mutter und Vater nach dem Prinzip Teilen und Herrschen erziehen.
Wer sich nicht wehrt, hat selbst Schuld
»Ich glaube, mein Vater hat mich als Kind kaum wahrgenommen«, sagt Reinhard Pahle, während er im Kamin Holz nachlegt. »Ich hatte auch Angst vor ihm. Er war ja so stark und groß, und ich war so unsicher. Immer meine Sorge: Mache ich es ihm recht?« Er beschreibt sich als ein weiches, fast weinerliches Kind, das häufig den Satz zu hören bekam: »Sei doch nicht so empfindlich«. Einmal bewarf ihn der jüngere Bruder mit Steinen. Er bat den Vater einzugreifen, aber der lachte nur und stellte sich auf die Seite des anderen. Für den Vater war klar: Wer sich nicht wehrt, hat selbst Schuld. Dennoch war Reinhard als Kind der Überzeugung: Ich habe es gut. Mir fehlt nichts. Damit lief er lange durchs |132| Leben. Erst in der psychosomatischen Klinik begriff er, dass es keine gute Kindheit war, dass ihm die Grundlagen für ein stabiles Selbstbewusstsein fehlten, mit der Folge, dass er seinen Arbeitseinsatz ständig überzog. Er kannte das Maß nicht. Wann hatte er genug getan? Seinem Gefühl nach war es nie genug. Auf diese Weise manövrierte er sich in ein Burnout.
Heute weiß er: Kindheitserinnerungen, die so spät einsetzen wie bei ihm, sind ein Merkmal der emotionalen Unterversorgung. Erinnern muss man mit Kindern einüben. »Aber wir Kinder waren in dieser Familie so unwichtig, dass man überhaupt keine Erinnerungskultur gepflegt hat«, erklärt er. »Mein einziges Fotoalbum habe ich von der Grundschule bekommen. Die Familienfotos kamen in eine Kiste, die wurde nur selten geöffnet.« In der Familie seiner Frau gebe es eine ausgeprägte Fotoalbenkultur, fährt er fort, dies könne ihn regelrecht neidisch machen. Auch seien dort die verwandtschaftlichen Beziehungen sehr gepflegt worden – im Unterschied zu seiner Familie, wo man darauf keinen Wert gelegt habe, entsprechend spärlich seien heute die Kontakte zu seinen Verwandten.
Im Laufe unseres Gesprächs tauchen dann doch mehr Erinnerungen auf, als ich auf Grund seiner Ankündigung erwartet habe. Zum Beispiel, wie Vater und Mutter sich auf einen Betriebsausflug vorbereiteten, in dem sie das korrekte Essen mit Messer und Gabel übten, denn beide kamen aus einem einfachen Bauernmilieu, wo die Pfanne mit der Bratwurst mitten auf den Tisch gestellt wurde. Der Sohn erzählt von der Einweihungsparty im neuen Haus, ein Fest mit Verwandten. Man trank viel, grölte Nazilieder, man hatte sich Hitlerbärtchen angemalt. Ein Ulk sei das gewesen, sagt er, davon gebe es noch Fotos. Sein Vater sei in den 1940er Jahren in die NSDAP eingetreten, allerdings kenne er das Motiv nicht. Im Grunde gebe es nur zwei Möglichkeiten: Karrierevorteile oder Bewunderung für den siegreichen Führer.
Vom Krieg hörte der Sohn so gut wie
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